Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Les rythmes cardiaques"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

16. 11. 2015 - 21:59

Les rythmes cardiaques

Ein rein französisches FM4 Heartbeat aus dem furchtbarst möglichen Anlass.

Noch so ein Augenzeugenbericht, der keiner ist. Als ich von den entsetzlichen Massakern in Paris erfuhr, saß ich am Klo. In einem Hotelzimmer in Brüssel zwar, aber so weit entfernt von jeder physischen Involvierung, wie man nur sein kann.

Ich hatte gerade nach verrichtetem Geschäft (jawohl, danach!) reflexartig meinen Daumen auf das dumme blau-weiße "f" getan und in den Meldungen gelesen, dass diese und jene Person aus meinem Freundeskreis sich im Event "Paris Terror Attacks" "safe" gemeldet hatte.

Ich wollte meine Frau nicht aufwecken und drehte nicht den Fernseher auf, aber ich las natürlich weiter. Stundenlang. Angsterfüllt.

Bis heute hab ich die Fernsehbilder nicht gesehen. Von den Festnahmen in Brüssel am Tag darauf bekamen wir auch nichts mit. Ich hab also keine Ahnung von irgendwas.

Im Gegensatz offenbar zu vielen Leuten, deren professionelle wie honorarfreie, offen und verdeckt interessensgelenkte Kommentare nun auf uns herunter rasseln.

Kollege Boris Jordan hat diesen Ausnahmezustand hier heute ja schon sehr schön zusammengefasst.

Auch in meiner Wahrnehmungsblase der sozialen Medien pflanzten sich nach dem klassischen Muster des Suchens nach Originalität und Distinktion schnell verschiedenste Ableitungen und Lesarten fort, die hier nicht weiteren Sauerstoff erhalten sollen, mich aber unglaublich müde und neben der Traurigkeit noch ein Stückchen zorniger machten.

Wobei wir klarstellen wollen, dass die von der Rechten genauso wie von der Linken herkommen.

In der Linken, wo ich mich besser auskenne, wieder einmal wie üblich mit - je nach Herkunft, ob britisch oder deutschsprachig - vorhersagbar gegensätzlicher Kausalkette in der Herstellung des unverzichtbaren, tatsächlich von unseren Schreibtischen aus nicht ohne spekulatives Reimen konkretisierbaren Israel-Zusammenhangs, sei der nun "pro" oder "kritisch" motiviert (beide Formen der Instrumentalisierung dieses Konflikts zur Selbstdarstellung haben ganz dicke Anführungszeichen verdient).

Der vertrottelte Mörderhaufen Daesh wird dabei, ob gewollt oder nicht, zu einer Stimme der Weltpolitik, der Gesellschafts- und Kulturkritik hochstilisiert.

Die Auseinandersetzung über das Unbehagen mit den nationalen Hoheitszeichen Frankreichs konnte ich dagegen schon eher nachvollziehen, auch hier von beiden Seiten des Arguments, und wen kümmerte da auch schon mein Standpunkt, während bereits die Bomben der Vergeltung fielen.

Den Mund zu halten schien fürs erste die beste Option, allerdings hab ich heute eine Musiksendung zu gestalten. Und ich habe, wie es sich ergibt, eine sehr emotionale Beziehung zu Frankreich, nicht zuletzt seiner Popkultur wegen (während ich etwa von der libanesischen Popkultur zugegebenermaßen keinen blassen Schimmer hab).

Die Lösung war also, als wie ich hoffe, friedlichste, am wenigsten anmaßende Geste, meine Sendung mit Musik aus Frankreich zu füllen. Das nächste Problem war bloß, dass ich in meiner angelsächsischen Blase dem aktuellen Stand furchtbar hinterher hinke. Bei mir ist immer noch Polnareff der dernier cri. Nein, so schlimm isses auch nicht, aber ungefähr.

Jacques Dutronc und Françoise Harcy

Dutronc/Hardy

Jacques und Francoise

Ich ging also in Brüssel in den fnac und fand, dass die dort auch nicht viel mehr hatten als ich (ein Trauerspiel). Über den Sonntag setzte ich mich mit meinen französischen Freund_innen Marie Rémy, Alexandre Perseverance und Julien Sauvageot, allesamt Labelbetreiber_innen und Popjournalist_innen in Kontakt und ließ mich von ihnen auf neue Fährten bringen, und der frankophile Rikki Nadir half mir bei der Textanalyse, damit mir angesichts der heiklen Umstände kein ungewollt unpassendes Zeug unterkam.

Ich stieß dabei zum Beispiel auf ein Mini-Garagen-Beat-Label namens Croque Macadam und erinnerte mich an fast vergessene Schätze wie "Brigitte Fontaine est... folle" und all das und vieles, vieles mehr fügte sich zu einem der - in aller Bescheidenheit - schönsten aller Heartbeats zusammen. Ganz jenseits des Ärmelkanals.

Ich lade ein zum Mithören. Als Gegengift zu dem ganzen Scheiß, der gerade auf uns niederregnet. À plus, mes chers.

PS: Warnung: Sendung enthält falsche Aussprache von "Bashung" und Croque Macadam (als "Croque Madam", oh dear…)

FM4 Heartbeat

    Heartbeat, 16.11.2015

    Artist Titel Label
    Louis Philippe À Paris Él Records
    Forever Pavot Les cigognes nenuphars Born Bad Records
    Jacques Dutronc L'opportuniste BMG France
    Les Innocents Harry Nilsson SME France
    Moodoid De folie pure Enterprise/Sony
    Melody's Echo Chamber You Won't be Missing That Part of me Domino
    Granville Polaroid Ample Play
    The Sudden Death of Stars I'll Be There Ample Play
    Charlotte Gainsbourg Memoir Because Music
    Serge Gainsbourg Qui est „in“, qui est „out“ Mercury
    French Kissing Wild Woman Croque Macadam
    Baston Falkland Croque Macadam
    Michél Polnareff L'amour avec toi Universal
    Freschard & The Wave Pictures And the Rain Fika Recordings
    Mopedrock!! Blanche-neige Konkord
    Brigitte Fontaine Blanche neige Editions Saravah
    Pain-Noir De l'ile Tomboy Lab/Un plan simple
    Jacques Brel Le moribond Barclay
    Nicolas Godin Widerstehe doch der Sünde Because Music
    Keren Ann Sailor & Widow Capitol/Parlophone France
    Francois & The Atlas Mountains La fille des cheveux de soie Domino
    Philippe Crab Le rasoir d'o Les Disques Perseverances
    Marianne Dissard Merci de rien du tout/Flashback Trop Exprès
    Francoise Hardy La question Kundalini/Parlophone
    Sebastien Tellier Coco Record Makers
    George Moustaki Jeux Dangereux Parlophone France
    Aurélien Merle Génie Le Saule
    George Brassens Au bois de mon coeur Mercury/Universal
    Laetitia Sadier Dry Fruit Drag City
    Jacques Tout est magnifique Pain surprises
    Alain Bashung J'envisage Barclay