Erstellt am: 16. 11. 2015 - 21:59 Uhr
Les rythmes cardiaques
Noch so ein Augenzeugenbericht, der keiner ist. Als ich von den entsetzlichen Massakern in Paris erfuhr, saß ich am Klo. In einem Hotelzimmer in Brüssel zwar, aber so weit entfernt von jeder physischen Involvierung, wie man nur sein kann.
Ich hatte gerade nach verrichtetem Geschäft (jawohl, danach!) reflexartig meinen Daumen auf das dumme blau-weiße "f" getan und in den Meldungen gelesen, dass diese und jene Person aus meinem Freundeskreis sich im Event "Paris Terror Attacks" "safe" gemeldet hatte.
Ich wollte meine Frau nicht aufwecken und drehte nicht den Fernseher auf, aber ich las natürlich weiter. Stundenlang. Angsterfüllt.
Bis heute hab ich die Fernsehbilder nicht gesehen. Von den Festnahmen in Brüssel am Tag darauf bekamen wir auch nichts mit. Ich hab also keine Ahnung von irgendwas.
Im Gegensatz offenbar zu vielen Leuten, deren professionelle wie honorarfreie, offen und verdeckt interessensgelenkte Kommentare nun auf uns herunter rasseln.
Kollege Boris Jordan hat diesen Ausnahmezustand hier heute ja schon sehr schön zusammengefasst.
Auch in meiner Wahrnehmungsblase der sozialen Medien pflanzten sich nach dem klassischen Muster des Suchens nach Originalität und Distinktion schnell verschiedenste Ableitungen und Lesarten fort, die hier nicht weiteren Sauerstoff erhalten sollen, mich aber unglaublich müde und neben der Traurigkeit noch ein Stückchen zorniger machten.
Wobei wir klarstellen wollen, dass die von der Rechten genauso wie von der Linken herkommen.
In der Linken, wo ich mich besser auskenne, wieder einmal wie üblich mit - je nach Herkunft, ob britisch oder deutschsprachig - vorhersagbar gegensätzlicher Kausalkette in der Herstellung des unverzichtbaren, tatsächlich von unseren Schreibtischen aus nicht ohne spekulatives Reimen konkretisierbaren Israel-Zusammenhangs, sei der nun "pro" oder "kritisch" motiviert (beide Formen der Instrumentalisierung dieses Konflikts zur Selbstdarstellung haben ganz dicke Anführungszeichen verdient).
Der vertrottelte Mörderhaufen Daesh wird dabei, ob gewollt oder nicht, zu einer Stimme der Weltpolitik, der Gesellschafts- und Kulturkritik hochstilisiert.
Die Auseinandersetzung über das Unbehagen mit den nationalen Hoheitszeichen Frankreichs konnte ich dagegen schon eher nachvollziehen, auch hier von beiden Seiten des Arguments, und wen kümmerte da auch schon mein Standpunkt, während bereits die Bomben der Vergeltung fielen.
Den Mund zu halten schien fürs erste die beste Option, allerdings hab ich heute eine Musiksendung zu gestalten. Und ich habe, wie es sich ergibt, eine sehr emotionale Beziehung zu Frankreich, nicht zuletzt seiner Popkultur wegen (während ich etwa von der libanesischen Popkultur zugegebenermaßen keinen blassen Schimmer hab).
Die Lösung war also, als wie ich hoffe, friedlichste, am wenigsten anmaßende Geste, meine Sendung mit Musik aus Frankreich zu füllen. Das nächste Problem war bloß, dass ich in meiner angelsächsischen Blase dem aktuellen Stand furchtbar hinterher hinke. Bei mir ist immer noch Polnareff der dernier cri. Nein, so schlimm isses auch nicht, aber ungefähr.

Dutronc/Hardy
Ich ging also in Brüssel in den fnac und fand, dass die dort auch nicht viel mehr hatten als ich (ein Trauerspiel). Über den Sonntag setzte ich mich mit meinen französischen Freund_innen Marie Rémy, Alexandre Perseverance und Julien Sauvageot, allesamt Labelbetreiber_innen und Popjournalist_innen in Kontakt und ließ mich von ihnen auf neue Fährten bringen, und der frankophile Rikki Nadir half mir bei der Textanalyse, damit mir angesichts der heiklen Umstände kein ungewollt unpassendes Zeug unterkam.
Ich stieß dabei zum Beispiel auf ein Mini-Garagen-Beat-Label namens Croque Macadam und erinnerte mich an fast vergessene Schätze wie "Brigitte Fontaine est... folle" und all das und vieles, vieles mehr fügte sich zu einem der - in aller Bescheidenheit - schönsten aller Heartbeats zusammen. Ganz jenseits des Ärmelkanals.
Ich lade ein zum Mithören. Als Gegengift zu dem ganzen Scheiß, der gerade auf uns niederregnet. À plus, mes chers.
PS: Warnung: Sendung enthält falsche Aussprache von "Bashung" und Croque Macadam (als "Croque Madam", oh dear…)
Heartbeat, 16.11.2015
Artist | Titel | Label |
---|---|---|
Louis Philippe | À Paris | Él Records |
Forever Pavot | Les cigognes nenuphars | Born Bad Records |
Jacques Dutronc | L'opportuniste | BMG France |
Les Innocents | Harry Nilsson | SME France |
Moodoid | De folie pure | Enterprise/Sony |
Melody's Echo Chamber | You Won't be Missing That Part of me | Domino |
Granville | Polaroid | Ample Play |
The Sudden Death of Stars | I'll Be There | Ample Play |
Charlotte Gainsbourg | Memoir | Because Music |
Serge Gainsbourg | Qui est „in“, qui est „out“ | Mercury |
French Kissing | Wild Woman | Croque Macadam |
Baston | Falkland | Croque Macadam |
Michél Polnareff | L'amour avec toi | Universal |
Freschard & The Wave Pictures | And the Rain | Fika Recordings |
Mopedrock!! | Blanche-neige | Konkord |
Brigitte Fontaine | Blanche neige | Editions Saravah |
Pain-Noir | De l'ile | Tomboy Lab/Un plan simple |
Jacques Brel | Le moribond | Barclay |
Nicolas Godin | Widerstehe doch der Sünde | Because Music |
Keren Ann | Sailor & Widow | Capitol/Parlophone France |
Francois & The Atlas Mountains | La fille des cheveux de soie | Domino |
Philippe Crab | Le rasoir d'o | Les Disques Perseverances |
Marianne Dissard | Merci de rien du tout/Flashback | Trop Exprès |
Francoise Hardy | La question | Kundalini/Parlophone |
Sebastien Tellier | Coco | Record Makers |
George Moustaki | Jeux Dangereux | Parlophone France |
Aurélien Merle | Génie | Le Saule |
George Brassens | Au bois de mon coeur | Mercury/Universal |
Laetitia Sadier | Dry Fruit | Drag City |
Jacques | Tout est magnifique | Pain surprises |
Alain Bashung | J'envisage | Barclay |