Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Die Generation 9/11"

Ali Cem Deniz

Das Alltagsmikroskop

17. 11. 2015 - 11:20

Die Generation 9/11

Wie MuslimInnen mit Terroranschlägen im Westen umgehen. Ab sofort für 7 Tage zum Anhören.

FM4 Auf Laut

Am Dienstag, den 17.11., ab 21 Uhr auf Radio FM4 und im Anschluss für 7 Tage on Demand.

Es gibt etwas, das alle Musliminnen und Muslime, egal ob säkular oder fromm, modern oder traditionell, liberal oder konservativ miteinander verbindet. Es verbindet sogar christliche AraberInnen, AtheistInnen mit arabischen und muslimischen Namen, sogar Sikhs und alle anderen Menschen, die für MuslimInnen gehalten werden könnten : die Angst vor neuen Anschlägen. Sie sind die Generation 9/11.

Der 11. September 2001 war für alle MuslimInnen ein entscheidendes Datum, aber es hat besonders die Biografien jener geprägt, die in der Post-9/11-Welt aufgewachsen sind.

Menschen Trauern in Paris

EPA/CHRISTOPHE PETIT TESSON

Trauer nach den Anschlägen in Paris.

Ein bisschen Unsichtbarkeit

Von 9/11 habe ich in der Schule erfahren. Wir alle waren überrascht, in erster Linie nicht wegen den Anschlägen, sondern weil die Fernseher in den Klassenzimmern doch TV-Empfang hatten. Erst als mir meine schockierten Eltern erklärten, was genau passiert und wer dafür verantwortlich war, habe ich verstanden, wie es mein Leben verändern wird.

Die Jahre danach sind für mich ähnlich vergangen, wie für die meisten aus der Generation 9/11: An Flughäfen wurden meine Koffer durchsucht, meine Freunde gaben blöde Sprüche ab und meine Geschichtelehrerin sagte immer wieder im Scherz, dass ich auffällig sei, weil ich zu gut integriert bin.

Als ich den Schock von Paris langsam verarbeiten konnte, ahnte ich schon was in den nächsten Tagen passieren wird: die Generation 9/11 wird wieder zögerlich und gebückt in die öffentlichen Verkehrsmittel steigen, in die Schulen und an ihre Arbeitsplätze gehen oder nicht-muslimische FreundInnen treffen.

Sie werden sich fragen, wieso das alles passiert, ob sie irgendwas tun können, um diese schrecklichen Taten zu verhindern. Ob sie ihr ganzes Leben gezwungen sein werden, Stellung zu beziehen, sich zu distanzieren oder gar zu entschuldigen. Oder ob sie einfach Europa verlassen sollten, weil sie keinen Bock mehr auf die Diskussionen haben. Eines werden sie jedenfalls nicht sein: unsichtbar.

Eiffelturm mit Sicherheitsbeamten

EPA/MALTE CHRISTIANS

Auch ich habe wieder ein Stück meiner Unsichtbarkeit verloren. Am Samstag hat ein Besoffener in der U-Bahn zunächst einen pakistanisch aussehenden Mann und danach meine Frau und mich auf die Anschläge angesprochen.

"Kennst du die Band, die da gespielt hat?" Ja, kenne ich, ich bin sogar Fan und wenn ich an dem Abend in Paris gewesen wäre, wäre ich vielleicht auf das Konzert gegangen. Das interessiert ihn aber nicht, stattdessen erklärt er uns, dass sich dieses Mal alles ändern wird und dass er jetzt "mobilisiert" sei.

Was die ExtremistInnen anpisst

In der Türkei herrscht derzeit eine Diskussion darüber, wieso sich Daesh zu den Anschlägen in Paris bekennt, aber nicht zu dem in Ankara. Die Antwort ist einfach: die Anschläge sollen Unruhe stiften, Angst schüren und die Menschen gegeneinander aufhetzen.

Kungebung in Ankara am 11. Oktober 2015, nach 2 Bombenanschlägen am Vortag mit 95 Toten.

EPA/YOAN VALAT

Kungebung in Ankara am 11. Oktober 2015, nach 2 Bombenanschlägen am Vortag mit 95 Toten.

In der Türkei oder auch im Irak, wo die Gruppe jahrelang anonym Anschläge ausführte, klappt das, wenn sie sich nicht dazu bekennt. Denn dort traut jede politische Gruppe ihren Feinden solche Anschläge zu. Niemand kann genau sagen, wer dahinter steckt, also verdächtigen und bekämpfen sich alle gegenseitig. Selbst wenn klar ist, dass Daesh hinter einem Anschlag steckt, fragen sich alle ob die eigenen politischen Rivalen vielleicht mit Daesh unter einer Decke stecken und ob es Komplizen gibt.

Im Westen hingegen erreicht Daesh ihr Ziel, wenn sie sich zu den Anschlägen bekennt, wenn sie sich als einzig wahre Vertreterin des Islams präsentiert und wenn Medien und populistische PolitikerInnen diese Propaganda weiterverbreiten und nicht differenzieren. In Europa, wo es immer sofort klar ist, dass die Daesh verantwortlich ist, diskutieren wir darüber, ob und was das alles mit „dem Islam“ zu tun hat und wie wir mit muslimischen Jugendlichen umgehen sollten.

IS, ISIS, ISIL oder Daesh?
Martin Blumenaus Journal über den ewigen Kampf um die Deutungshoheit in Sprache und Benennung.

Und wenn Pässe von Flüchtlingen auftauchen, ist das keine Überraschung sondern ein Beleg dafür, wie extremistische IdeologInnen die Spannungen in den europäischen Gesellschaften beobachten und ihre Ideen und Methoden anpassen. Daesh übt kaum Anschläge gegen Sicherheitskräfte oder militärische Ziele aus. Stattdessen richten sich die Attacken auf empfindliche Konfliktlinien der Gesellschaft. Der Angriff auf Charlie Hebdo bedient beispielsweise die Rhetorik vom Kampf der Kulturen. Die neuen Anschläge auf Paris hingegen wollen die aktuellen Flüchtlingsdebatten verschärfen und sie endgültig in eine sicherheitspolitische Debatte verwandeln.

Militärische Schläge können Daesh vielleicht auslöschen, wenn die Koalitionskräfte bereit sind, den massenhaften Tod von ZivilistInnen in Kauf zu nehmen. Sie werden aber nicht verhindern können, dass sich in Zukunft neue radikale Gruppen bilden. Das geht nur mit Geduld, Vertrauen und Offenheit.

Der Aktivist und Blogger Iyad El-Baghdadi, der mit seinem Namen wohl nie wieder „Unsichtbarkeit“ genießen wird können, hat letztens auf Twitter geschrieben, wovor sich Daesh und andere ExtremistInnen am meisten fürchten:

FM4 Auf Laut: Leben nach dem Terror

Wie ist das subjektive Sicherheitsgefühl nach diesem Wochenende? Geht ihr ganz normal aus, als wenn nichts gewesen wäre? Oder sogar erst recht? Und wie geht es den muslimischen MitbürgerInnen?

Am Dienstag, den 17.11., ab 21 Uhr auf Radio FM4 und im Anschluss für 7 Tage on Demand.

FM4 Auf Laut