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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

17. 10. 2015 - 11:51

Post-Millennial Pension

Die Kapitulation des Modells Pitchfork vor der Hochburg des Hochglanz. Über das Ausrinnen der Popkritik.

Gut, das untote Fach der Pop-Kritik und deren Zukunft ist ein Thema, wo die meisten zurecht sagen werden: Auf dieser Welt passieren dringlicher zu debattierende Dinge.

Kann ich verstehen, ist ja auch nicht euer Job. Oder vielleicht doch, man weiß ja nie, wer das hier alles liest.

Vor einem Jahrzehnt noch hätte ich das hier nicht schreiben können, ohne dass jemand in drei Minuten drunter den Sager vom Schreiben über Musik als Tanzen zu Architektur zitiert und fünf andere mit ihr/ihm darüber diskutiert hätten, ob der jetzt von Zappa, Costello oder Laurie Anderson stammt. Aber im Zeitalter der praktizierten Ironie empfinden wir das Weitergeben unserer User-Daten an den ORF ja als ein gefährliches Eindringen in unsere Privatsphäre und vertrauen stattdessen lieber auf die Diskretion von Facebook.

Mein Anlass ist jedenfalls der vor zwei oder drei Tagen verlautbarte Kauf der Website Pitchfork durch den Magazin-Verlag Condé Nast (Vogue, GQ, New Yorker, Vanity Fair, Brides, Golf World, Golf Digest etc.).

Es war Pitchforks Publikum „leidenschaftlicher männlicher Millenials“, das den Konzern zu dieser Akquisition bewog – was wiederum auf meiner Timeline für vorhersehbar viel Amüsement und Verärgerung gesorgt hat, irgendwo zwischen „Sexistisch!“ und „Eh klar, Listenschreiben, Nerd-Wissen ausstellen und Platten nach Noten kategorisieren, typisch Typen.“

Pitchfork-Logo

Pitchfork

Aber ich bin in diesem Fall ganz bei der Marketingabteilung: Eine klare Zielgruppe ist Gold wert, Genitalien sind beim Lesen von Musikkritiken ein gern unterschätzter Hintergrundaspekt, und das Logo sieht, muss man zugeben, tatsächlich so aus wie eine erigierte Sozialdemokratie im permanenten prä-Penetrations-Stadium. Ergo leidenschaftliche männliche Milliennials.

Noch schlüssiger als diese Analyse der Marketingmenschen war nur die mit Dollarzeichen in den Augen in bestem Englisch/Marketingspeak verfasste Verlautbarung seitens der frisch verscherbelten Kritikerbibel selbst.

Ich zitiere und übersetze zweifach:

„Condé Nast glaubt, so wie wir, dass Pitchfork eine redaktionelle Stimme aufgebaut hat, die einen starken Standpunkt neben seinen anderen einnimmt...“

(den anderen Stimmen nämlich, wie etwa der von Golf Digest)

„...und dass die Integrität dieser Stimme – und unserer Meinungen – von grundlegender Wichtigkeit für unsere Identität sind...“

(Wenn wir sagen Beach House ist 8.1, dann ist und bleibt das so, egal was die Mächtigsten der Mächtigen dazu sagen)

„...Wir sind unglaublich glücklich...“

(neuerdings reich)

„...in Condé Nast eine Gruppe von Leuten gefunden zu haben, die jeden Aspekt unseres Fokus teilt...“

(CEO Robert A. Sauerberg Jr's legendäre Neo-Shoegaze-Obsession)

„...Ihre über hundertjährige Erfahrung im Aufbau von Marken, gekennzeichnet von redaktioneller Integrität ist wie geschaffen für Pitchfork...“

(auf Englisch steht da „a natural fit“, darauf komm ich noch zurück)

„...und ihr Glauben daran, was wir tun, verbunden mit ihrer zusätzlichen Expertise, wird es uns erlauben, unsere Berichterstattung über alle Plattformen zu erweitern, während wir den Idealen treu bleiben, die Pitchfork zur Stimme mit dem meisten Vertrauen in der Musik gemacht haben.“

Im Original steht da: „The most trusted voice in music.“

Die Herausgeber_innen müssen diesen Satz abgesegnet haben, ohne dass jemand dabei aufgefallen wäre, dass ein „voice in music“ für Menschen außerhalb der Musikkritik-Blase generell ja eher mit einer Singstimme assoziiert wird. Dass diese Leute darunter zuallererst einmal ihre eigenen Rezensionen verstehen, ist immerhin ziemlich authentisch.

Das mit dem „natural fit“ dagegen: Fast zwei Jahrzehnte lang hat Pitchfork unabhängig gebloggt, und ich als pre-millennial male erinnere mich noch lebhaft daran, dass im Netz damals irgendwie alles anders werden sollte. Zu Zeiten von Pitchforks großem Arcade Fire-Moment vor etwa elf Jahren hieß es, Musikblogs hätten das „Holz“ abgelöst. Eine gute Note von den Online-Nerds bei Pitchfork zähle zehnmal so viel wie der Zuspruch der von der Anzeigenkeilerei korrumpierten Hochglanzpresse, und das alte Verleger-Establishment hätte von all dem keine Ahnung.

Dass diese Geschichte in einem Kniefall vor Condé Nast, der Hochburg des Hochglanz enden sollte, war nach dem damaligen Narrativ der neuen Zeit so nicht geplant.

Nun bin ich ja selber einer, der sich das regelmäßige Lesen von Pitchfork trotz mehrmaliger Versuche nie angewöhnen konnte, weil mich die Albumkritik mit Punktevergabe nach Weinverkoster-Prinzip (statt einer Auseinandersetzung in Streit oder Liebe oder beidem, manchmal auch mit offenem Ausgang) nie so recht befriedigte.

Aber dieses biedere Rosinenpicker-Format passte zugegebenermaßen perfekt zu einer Welt inflationärer Veröffentlichungen, in der alles außer dem obersten Rand des Mainstream in einem Strudel der akkumulierten Obskurität versinkt und das, was man nicht mag, sich sehr bequem ignorieren lässt.

Ich kenne immerhin gute Leute, für die in den Nullerjahren ein guter Pitchfork-Review unerwartet einen – zumindest temporären – Lebensunterhalt bedeutet hat.

Der Verkauf von Pitchfork sagt nun, dass es auf dieser Route offenbar nicht mehr weitergeht, und das von der Redaktion in den letzten Jahren offensiv betriebene Ablegen des Snobismus gegenüber dem Mainstream-Pop sieht in diesem Kontext verdächtig nach einer strategischen Vorbereitung des nun erfolgten Absprungs aus.

Ich wünschte, ich könnte hier behaupten, dass in der Zwischenzeit ein wucherndes Biotop spannender, wendiger, kleiner Blogs und Tumblrs den Web 1.0-Dinosaurier ersetzt hat. Doch wiewohl es diese gibt, einen erkennbaren, wirklich einflussreichen voice about music haben sie in ihrer mannigfachen Mikro-Öffentlichkeit logischerweise nicht hervorgebracht.

Da geht es eher zu wie in der Modelleisenbahn-Community: Viel Detailwissen und ehrliche Zuneigung, aber keine Störung, zumal deren Hervorrufen ja auch schon lange nicht mehr im Vermögen der besprochenen Musik bzw. Modelleisenbahnen liegt.

Selbst das letzte Kontroversenpotenzial nach dem Muster „Band sagt Blödsinn – jemand ist beleidigt – Band entschuldigt sich – Blog tut, als würde das wen interessieren“ ist mittlerweile jenseits des Verschwimmens von Parodie und Ernst ausgereizt, siehe St. Vincent's jüngste Entschuldigung bei der befremdeten Community der Burrito-Esser_innen.

Und wenn schließlich irgendwo zumindest ein Schatten der alten Pop-Konflikte rund um eine Band wie Wanda aufflackert, erscheint der auf meiner Timeline bei weitem meist-diskutierte Text bezeichnenderweise erst recht bei der alten Süddeutschen.

Eh eine überfällige Entwicklung, bieten hier in Großbritannien – neben den einst als biedere Altmänner-Klo-Lektüre verlachten, aber gerade deshalb von einer zahlenden Kundschaft beharrlich am Leben erhaltenen Monatsmagazinen wie Mojo, Uncut oder The Wire – doch schon seit langem ausgerechnet die noch älteren Tageszeitungen das letzte Refugium des Pop-Journalismus.

Auch da hat allerdings – synchron zum Beispiel Pitchfork – die bei der Anzeigenabteilung so beliebte Thematisierung von vermeintlich rasend spannendem Mainstream-Pop als Vehikel für schwammiges identity politics-Geschwafel Einzug gehalten. Der anti-snobistische Ausbruch aus dem Indie-Käfig vollzieht seine unwiderstehliche Reise zum Endpunkt expliziter Hofberichterstattung.

Den erreichte der Guardian spätestens im August 2015 mit einer Geschichte darüber, warum die Tatsache, dass Beyoncé der Vogue für eine Cover-Story kein Interview gab, als ultimative Empowerment-Geste zu deuten sei.

A propos, neulich hab ich wieder den heutzutage gratis aufliegenden NME aus einem Spender vor dem HMV mitgenommen (diese Woche mit Taylor Swift auf dem Cover), und ich hab's wieder einmal nicht geschafft, eine längere Story darin fertig zu lesen. Nicht weil's zu schwierig gewesen wäre, sagen wir's so.

Gestern wiederum traf ich in einem Pub nahe der St. Pancras Station den sehr gescheiten Musiker, Musikjournalisten, Radiomenschen, Uni-Lektor und Robert Wyatt-Biographen Marcus O'Dair (Mitschnitt demnächst einmal in FM4 Heartbeat) und sprach ihn unter anderem auf den großartigen Auftragstext an, den der Schriftsteller Robert MacFarlane über sein Duo Grasscut geschrieben hat.

Wer findet, dass Schreiben über Pop grundsätzlich einfach nicht mehr relevant ist, möge sich das durchlesen.

Wenn Promo-Texte jetzt schon der letzte Spielplatz für Pop-Kritik mit literarischen Anflügen sind, wollte ich von O'Dair wissen, wie steht es dann um unseren Beruf (bzw. einen unserer Berufe, einen Beruf allein kann sich eh niemand leisten)?

Er lachte verlegen, aber herzhaft. Antwort hatte er keine.