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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

7. 7. 2015 - 16:26

10 Jahre 7/7

Zum zehnjährigen Jubiläum der Terror-Anschläge von London. Was wurde aus der Idee des Horts der Freiheit? Es gibt nicht nur zu gedenken, sondern auch Fragen zu stellen.

Ich sollte hier eigentlich einen Text über den 7. Juli 2005 schreiben, so wie - gefühlt - alle anderen Schreiberlinge auch, die damals in London waren.

Ich hab ja durchaus meine Erinnerungen an das Datum. Es war unser zweiter Sommer in Canterbury, nachdem wir aus London geflohen waren, so wie das irgendwann (fast) alle tun.

Bloß, dass es uns nicht nur um die Wohnsituation in der Metropole ging, sondern auch um das Gefühl, dass sich da was zusammenbraute in der Zeit nach Beginn des Irak-Kriegs. Die Hybris der Regierung und der mit ihr großflächig gleichgeschalteten Medien. Der Kriegsjubel, das Gerede von "shock and awe". Der unterschwellig brodelnde Zorn stimmenloser Minderheiten.

Ich kann nicht lügen, wir sind damals auch deswegen von London abgehaut, weil diese auf Ausbruch lauernde Spannung in der Luft lag. Weil wir - wie alle, die auch nur eine Spur Flaum auf der Haut hatten - damit rechneten, dass dort bald was Furchtbares passieren würde. Und das tat es dann ja auch.

Britische Zeitungen am 8. Juli 2005, den Tag nach den Anschlägen

APA/ERNST WEISS

Zeitungsberichte nach dem Anschlag

Seit unserem Umzug war noch zu wenig Zeit vergangen, um mir nebst dem Horror eine Portion Schuldgefühl einzujagen, als ich dann im Fernsehen die ersten Bilder der Anschläge sah. So als wäre es moralisch verwerflich, sechzig Meilen südöstlich von den Bomben in Sicherheit zu sitzen. Als hätte ich die Stadt, wo ich acht Jahre lang gewohnt hatte, im Stich gelassen.

Ich erinnere mich an die Anrufe diverser Redaktionen aus Österreich und Deutschland. Und an meine eigenen Anrufe bei befreundeten Londoner_innen (übrigens bis heute der Grund, warum ich nie mein Festnetz aufgeben will, das Mobilnetz war nämlich eine zeitlang entweder zusammengebrochen oder abgedreht).

Der Moment, als die Tragödie zu einer verwertbaren "Geschichte" wurde, die alle haben wollten, und ich damit zwangsläufig zum Nutznießer des Schreckens.

Ich weiß auch noch, wie ich schließlich in der Abendröte auf der leeren Autobahn an LED-Schildern mit der Aufschrift "MAJOR INCIDENT. AVOID CENTRAL LONDON" vorbei in Richtung der Katastrophe fuhr, um vor den Fernsehkameras meinen Einstieg aus London zu machen.

Aber dabei blieb es auch schon. In Wahrheit hatte ich mit den Anschlägen auf die Londoner Underground und Londoner Busse an jenem 7.7., sowie mit den nachfolgenden Attentaten am 21. rein gar nichts zu tun.

Und das ist der Grund, warum ich sie nicht einmal lesen kann, all die "think pieces" der Kolleg_innen, die meine Timeline mir heute zum zehnjährigen Jubiläum dieses Terrorakts anpreist.

Bis auf jene, die selbst betroffen waren und überlebt bzw. Angehörige oder Freund_innen verloren haben, gibt es für uns Verschonte nämlich nichts zu verbreiten.

Schon gar nicht die mir in Form von Überschriften, Textzitaten entgegenblitzende Legende vom heldenhaften, unbeugsamen London, das sich nicht unterkriegen ließ - handlich versinnbildlicht durch die endlos vervielfältigte Rede des damaligen Bürgermeisters Ken Livingstone, der London zu einer Oase der Freiheit hochstilisierte, wo die Leute aus aller Welt hinziehen, "to live the life they choose."

Ich hatte ja eher das Gefühl, die Unbeugsamen machten weiter wie vorher, weil sie - ganz im Gegenteil - keine andere Wahl hatten. Die Rechnungen hörten nach dem 7. Juli nicht auf durch den Briefschlitz zu flattern und in London konnte sich damals schon niemand eine Pause leisten.

Damals wie heute gab es Leute, die Horror gegen Horror aufzurechnen begannen. Die 52 Toten und 700 Verletzten in London gegen die vielen abertausenden anderen, die anderswo durch britische Bomben oder die seiner Verbündeten sterben und starben.

Solche Rechnungen sind immer obszön. Und natürlich hat es eine andere Wirkung, ein Attentat in der eigenen Nachbarschaft zu erleben, im Verhältnis zur Abstraktion des täglichen Entsetzens aus aller Welt.

David Cameron und Londons Bürgermeister Boris Johnson

APA/EPA/RUSSELL MILLARD

Trotzdem bin ich mir bewusst, dass das, was ich hier schreibe, nicht von Londoner_innen, sondern von Menschen mit Außenblick gelesen wird, also von Leuten, denen beim Anstupsen des nationalen britischen Tapferkeitsmythos nicht augenblicklich warm ums Herz wird.

Und das ist in diesem Fall hilfreich. Gerade beim Gedenken hilft nämlich Distanz.

2005 war es mit den sozialen Medien noch nicht so weit her. Wir hatten Myspace, das war's auch schon, es gab noch keine algorithmische Provinzialisierung des Unendlichen im Sinne des automatisierten Nischen-Marketing. Man konnte noch daran glauben, dass die Online-Welt die eigene Wahrnehmung bzw. jene, die die traditionellen Massenmedien abbildeten, erweitern statt verengen würde.

Heute flattere ich dagegen online hin und her zwischen deutsch- und englischsprachigen Echokammern, in denen sich jeweils lokale und nationale Befindlichkeiten widerspruchslos verstärken, und bin regelmäßig erstaunt, wie viel diese Welten erfolgreich voneinander fernhalten.

Die europäische Flüchtlingskrise zum Beispiel ist aus britischer Mainstream-Sicht eine Angelegenheit, die gefälligst auswärtig zu bleiben hat. Es gab kaum politische Gegenstimmen, als Home Secretary Theresa May beschloss, vom britischen Sonderrecht zum "Opt-out" aus jedem europäischen Plan zur Aufnahme von Flüchtlingen Gebrauch zu machen.

Dem schändlichen Verhalten des Festlands, von den österreichischen Zeltstädten bis zu den Volksempörungen in Deutschland, stehen hier die Zustände im "Immigration Removal Centre" in Yarls Wood entgegen.

Und immer wieder hört man horrende Geschichten, von Kanalschwimmern, aus Flugzeugtriebwerken auf Londoner Hausdächer abstürzenden blinden Passagieren, und solchen, die sich in Calais auf Lastwägen und Autos schmuggeln. Erst heute stürzte wieder einer im Channel Tunnnel von einem Frachtzug. Es kam zum Stau, das war einen Bericht wert.

Aber mit der Entfernung der Flüchtlinge von ihren Ursprungsländern steigt der mediale Konsens darüber, dass diese Leute alle nicht hierher gehören. Und wie stark der greift, das merke ich dann eben unter anderem daran, wie viele Briten, durchaus gute Leute, heute auf meiner Twitter-Timeline völlig unreflektiert Ken Livingstones Worte von damals wiedergaben, ohne sich des Widerspruchs bewusst zu sein, der ihnen aus heutiger Sicht anhaftet.

Billy Bragg zum Beispiel:

Ken Livingstones Rede getweetet von Billy Bragg

twitter/billybragg

Was sagte Livingstone wirklich?
"Schließlich möchte ich direkt jene ansprechen, die nach London kamen, um Leben zu nehmen. Ich weiß, dass ihr persönlich keine Angst habt, euer Leben zu opfern, um die anderer zu nehmen - Deswegen seid ihr so gefährlich. Aber ich weiß, dass ihr Angst habt, in eurem langfristigen Ziel zu scheitern, unsere freie Gesellschaft zu zerstören, und ich kann euch zeigen, auf welche Weise ihr scheitern werdet.

Schaut euch in den folgenden Tagen unsere Flughäfen, unsere Seehäfen und unsere Bahnhöfe an, und selbst nach eurem feigen Angriff werdet ihr sehen, dass Menschen aus dem Rest Britanniens und aus der ganzen Welt in London ankommen werden, um Londoner_innen zu werden und ihre Träume zu erfüllen und ihr Potenzial zu erreichen.

Sie haben es sich ausgesucht, nach London zu kommen, wie so viele vor ihnen, weil sie kommen um frei zu sein, um das Leben ihrer Wahl zu führen, und um sie selbst sein zu können. Sie fliehen vor euch, weil ihr ihnen sagt, wie sie leben sollen. Sie wollen das nicht und nichts, was ihr tut, wie viele von uns ihr auch tötet, wird diese Flucht in unsere Stadt aufhalten, wo die Freiheit stark ist und wo Leute miteinander in Harmonie leben können. Was immer ihr tut, wie viele auch immer ihr tötet, ihr werdet scheitern."

Das ist "as powerful today as it was then", Billy Bragg?

Wirklich?

Sollten wir, bevor wir vor Stolz über Londons Weltoffenheit übergehen, im Jahr 2015 nicht doch noch einen Blick auf die Flughäfen, die Seehäfen und die Bahnhöfe werfen und schauen, wieviel Chance die, die da fliehen, tatsächlich haben, an diesen Hort der Freiheit zu gelangen und ihre Träume zu erfüllen?

Die Leute, die dem Geheiß der Islamist_innen nicht folgen wollen, sie fliehen nämlich noch immer, aber sie kommen nicht mehr an.

London dagegen hat heute eine Minute lang geschwiegen, sich selbst zu seinem heldenhaften Überleben gratuliert und dabei nicht einmal bemerkt, dass es längst nicht mehr dieselbe Stadt ist wie noch vor zehn Jahren.