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Erich Möchel

Netzpolitik, Datenschutz - und Spaß am Gerät.

28. 5. 2015 - 19:00

Netzsperren statt Netzneutralität im EU-Ministerrat

Die Interessen von Ministerrat und konservativen Politikern zur Einführung von Netzfiltern passen zur Forderung der Telekoms, die Netzneutralität abzuschaffen.

Während der EU-Ministerrat die Beschlüsse des EU-Parlaments zu Netzneutralität und Datenschutzreform systematisch demontiert, vervielfachen sich die Leaks. Obwohl die Ratssitzungen unter Geheimhaltung verlaufen, lässt sich die Demontage der Parlamentsbeschlüsse bei beiden Gesetzesvorhaben mittlerweile im Wochenrhythmus mitverfolgen. Am Dienstag publizierte die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch gleich sieben Ratsdokumente zur Datenschutzverordnung, parallel wurde der allerneueste Verhandlungsstand im Rat zur Netzneutralität bekannt.

Dieser Begriff ist nunmehr völlig aus dem Text des Rats verschwunden, stattdessen finden sich im neuesten Leak Optionen für den Einsatz staatliche Filtermechanismen à la Großbritannien. Statt der vom Parlament geforderten Gleichbehandlung allen Datenverkehrs eröffnet der Ratsentwurf den Telekoms alle Möglichkeiten, den freien Fluss der Informationen zu kontingentieren und gegen Aufschläge paketweise zu verkaufen. Am Mittwoch reagierte der Rat dann auf die Leaks mit der Veröffentlichung eines Kompromissvorschlags der lettischen Ratspräsidentschaft, der ein paar der offensichtlichsten Passagen etwas relativierte.

Screenshot von Artikel zwei des Ratsentwurf

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Dieses informelle Ratsdokument stammt vom 17. Mai

"Kinderinternet" als Option

Der interne Verhandlungstext samt Kompromissvorschlag des Rats vom 17.Mai, Leak von La Quadrature du Net

An der Tendenz des gesamten Ratsvorhabens ändert das nichts. Was bisher rein nationale Maßnahmen waren, wie die zwangsweise Einrichtung von "Kinderfiltern" bei den Internetprovidern Großbritanniens, soll nun als Option in EU-Recht übernommen werden. Ein solches "Kinderinternet" ist in Großbritannien mittlerweile der Standardzugang zum Internet, unzensurierte Information wird erst nach Altersnachweis zugänglich. Geblockt wird eine bunte Mischung aus (legaler) Pornografie und Tauschbörѕen auf Torrent-Basis sowie periodisch Social Networks, die oft nur durch ein einziges beanstandbares Posting für Tage vom Netz geholt wurden. 2013 hatte es sogar die komplette Wikipedia erwischt.

"Maßnahmen zur elterlichen Kontrolle", heißt es nun offiziell von der lettischen Ratspräsidentschaft, "sollten so angewendet werden, dass der Endbenutzer entscheiden kann, welche Kategorien von Inhalten blockiert, gefiltert oder kontrolliert werden sollen". Außerdem solle der Endbenutzer darauf hingewiesen werden, dass solche Maßnahmen gesetzt wurden. Warum von den Telekoms - anders als von Internetfirmen - kein Wort gegen solch weitreichende Blockademöglichkeiten kommt, ist auf die weitgehend deckungsgleichen Praktiken der Telekoms zurückzuführen.

Screenshot aus derm offizielle veröffentlichten Vorschag der Ratspräsidentschaft zu Internetblockaden

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Dieser Ausriss stammt aus dem offiziell publizierten "Kompromissvorschlag" der lettischen Ratspräsidentschaft vom Mittwoch. Kurz davor zirkulierte allerdings derselbe Text bereits als Leak.

Kontingentierung des Internetverkehrs

Vor allem konservative Politiker drängen seit Jahren auf Einführung solcher Sperrmechanismen bzw. haben sie, wie etwa in Dänemark, in einigen EU-Mitgliedsstaaten bereits umgesetzt. Die meisten Telekoms haben kein Problem damit, im Gegenteil - das ist genau, was mit der Aufhebung der Netzneutralität erreicht werden sollte: Die Kontingentierung des Internetverkehrs.

Das EU-Parlament hatte seinen Entwurf zur Netzneutralität bereits am 3. April 2014 beschlosssen. Seitdem ist der Ministerrat am Zug, der statt der mehrheitlich akkordierten Version des Parlaments den ursprünglichen Rohentwurf der Kommission zum Ausgang nahm.

Gibt es nämlich ein "Kinderinternet" sowie ein "Erwachseneninternet", dann sind das zwei verschiedene Produkte, die sich nur anfangs noch nicht im Preis unterscheiden. Eine ganze Reihe europäischer Telekoms hatte zentral gefiltertes Kinderinternet bereits vor Jahren als Zusatzservice gegen Aufpreis angeboten, die Nachfrage war freilich so verhalten, dass die meisten dieser Services wieder eingestellt wurden.

Unzensuriertes Internet als Zusatzservice

Im Fall von Großbritannien ist es aktuell schon umgekehrt. Der Standardzugang ist gefiltertes Kinderinternet, offener Internetzugang ist ein "Zusatzservice", der nur gegen persönliches Erscheinen mit Ausweis in einem Shop erhältlich ist. Das gesamte Konstrukt läuft auf eine Private-Public-Partnership zwischen konservativen Hardlinern und den Telekoms hinaus, die in diesem Fall fast deckungsgleiche Interessen haben. Die Politik will Internetverkehr mit eingebauten Zugriffsmöglichkeiten, aktuell sollen Websites von Pseudo-Dschihadisten blockiert werden, anstatt der üblichen "Kinderpornografie".

ein vorhängeschloss

CC BY 2.0 von Diego Torres Silvestre https://www.flickr.com/photos/3336/

Das erste "Kompromissdokument" des Parlaments geleakt am 8. Mai von Politico. Parlamentarier und Ratsdelegierte sitzen bereits mit der Kommission im "Trilog" zusammen, um einen "Kompromiss" zu finden (siehe im Text ganz unten)

Die Telekoms wiederum wollen Eingriffsmöglichkeit in den Internetverkehr, um diesen - spät aber doch - nach ihren Interessen in Kontingente zu packen, aus denen wiederum unterschiedliche Produkte werden sollen. Die gesamte Richtlinie zielt ja darauf ab, die europäischen Telekoms gegen die US-Internetkonzerne zu stärken, deren Services deutlich profitabler sind als jene der Telekoms, die zumeist reine Zugangsangebote sind. Seit dem Beginn des World Wide Web 1995 hatten die Telekoms versucht, im Servicebereich Fuß zu fassen. Mit Ausnahme des japanischen Mobilfunkbetreibers NTT DoComMo, der um 2000 über die damals weltweit größte Webplattform für Mobilgeräte verfügte, gibt es bis heute weder einen Service noch ein Webportal aus dem Telekombereich, das mit den Diensten der Internetfirmen aus den USA konkurrieren könnte.

Telechirurgie auf der Überholspur

Nach Willen von Kommission und Rat soll den Telekoms daher ein Gutteil des künftigen Datenverkehrs im "Internet der Dinge" per EU-Regelung zugeschanzt werden. Offiziellerseits ist dabei stets von "Spezialservices" für Blaulichtorganisationen, Telechirurgie oder "Connected Cars" die Rede. Das seinen allesamt zeitkritische bis lebenswichtige Dienste, die nun einmal auf garantierte Bandbreiten angewiesen seien, lautet die Argumentation von Kommission, Rat und EU-Parlamentariern aus dem konservativen Lager.

Der Ratstext vom 27. April, veröffentlicht von Statewatch

Bereits während der zweijährigen Verhandlungsprozedur im EU-Parlament waren diese "Spezialservices", die auf wiederholte Anfragen von EU-Parlamentariern kein einziges Mal näher spezifiziert werden konnten, wieder im Text aufgetaucht. Von den Befürwortern einer solchen Regelung im Parlament wurde dabei stets bestritten, dass es sich dabei um eine "mautpflichtige Überholspur auf der Datenautobahn" für Unterhaltungskonzerne wie Netflix handle, um es in der Begrifflichkeit des zuständigen EU-Kommissars Günther Oettinger auszudrücken.

Screenshot aus dem Non-Paper des Rats vom 17.Mai, Artkel vier

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Screenshot aus dem Non-Paper des Rats vom 17.Mai, Artikel vier. Zu beachten ist dabei die Wortwahl, denn gerade die umstrittensten Passagen sind wie so oft, besonders unübersichtlich in den Formulierungen, dafür sind stets positiv besetzte Begriffe wie hier "shall be free to agree" eingestreut.

Am Beispiel Netflix

In Artikel vier des Leaks ist keine Rede von irgendwelchen Einschränkungen, das Wording ist vielmehr so gehalten, dass beliebige Services priorisiert werden können. "Andere Services, als reine Zugangsangebote" nämlich solche, "die für spezifische Inhalte, Anwendungen oder Dienste optimiert sind (...), um einen bestimmten Qualitätslevel zu bieten", könnten zwischen Zugangsanbietern, Endkunden und Anbietern von Services, Content oder Anwendungen frei vereinbart werden, heißt es im Ratsdokument dazu.

Eine Telekom kann also mit einem Content-Anbieter wie Netflix vereinbaren, dessen Videostreams zu "optimieren, um einen bestimmten Qualitätslevel zu erreichen". Übersetzt aus dem Brüsseler Argot: Die Garantie ruckelfreier Auslieferung von HD-Videos ist ein "spezieller Service" für Netflix, der seinen Preis hat. Der Endbenutzer wiederum "ist frei", diesen Service ebenfalls kostenpflichtig zu abonnieren.

Weiter am 2. Juni

Das sind längst nicht die einzigen Punkte, in denen die Ratsposition in diametralem Widerspruch zum Willen einer großen parlamentarischen Mehrheit steht. Auch Artikel drei zur "Sicherstellung des freien Internetzugangs" wurde völlig umgeschrieben, jede einzelne Änderung läuft in dieselbe Richtung, nämlich den gesamten Sinngehalt der Regelung in eine bestimmte Richtung zu drehen.

Weil sich die Positionen von Parlament und Rat - dessen Version noch nicht einmal fertig ist - immer weiter voneinander entfernen, wurde zum üblichen Brüsseler "Instrument" gegriffen. Der sogenannte Trilog (auch "Trialog") ist stets ein ebenso kleines wie undurchsichtiges Gremium aus Kommission, Rat und ausgewählten Parlamentariern, in dem kein offizielles Protokoll geführt wird. Die nächste Trilog-Sitzung findet am 2. Juni statt. Was da vereinbart wurde, könnte die interessierte Öffentlichkeit schon wenig später aus einem neuen Leak erfahren.