Erstellt am: 11. 4. 2015 - 15:25 Uhr
"I can't believe we got to this point"
Stephen Duffy, Stimme der Weisheit, wieder hab ich an dich denken müssen in den letzten paar Tagen, als der britische Wahlkampf neue Tiefpunkte erreichte.

The Lilac Time
Michael Fallon, der konservative Verteidigungsminister, hatte gemeint, Labour-Kandidat Ed Miliband würde dem Vereinten Königreich bei der ersten Gelegenheit den sprichwörtlichen Dolch in den Rücken treiben. Um mit den schottischen Nationalisten zusammen regieren zu können, würde er ihnen zuliebe auf die anstehende Nachrüstung der britischen Nuklear-U-Boot-Flotte, genannt Trident, verzichten und so Großbritanniens Sicherheit gefährden.
„Stab in the back“, sagte Fallon dazu, und ich war nicht der einzige Paranoiker, der dabei an die Dolchstoßlegende dachte und das mit den anderen immer wieder hervorgeholten Vorwürfen an Miliband zu einem sehr wiedererkennbaren Stereotyp zusammenfügte:
Er sei ein „Geek aus Nordlondon“ (gemeint ist Hampstead, wo nach dem Krieg die jüdischen Immigrant_innen, darunter Milibands Eltern hinzogen und eine dem angelsächsichen Establishment suspekte, intellektuelle Blase bildeten).
Man könne ihm nicht trauen, weil er seinen eigenen Bruder im Kampf um den Labour-Vorsitz ausgebootet habe (auch dies laut Fallon ein „Rückenstich“).
Er sei „weird“.
Er könne berüchtigterweise kein Speck-Sandwich essen, ohne dabei peinlich auszusehen. Subtext: Er will einer von uns sein, aber wir wissen alle, wer die sind, die keinen Speck essen.
Aber auf keinen Fall, entgegnete Miliband Fallons Behauptungen, die unterschwellig antisemitische Kombo an Untertönen geflissentlich überhörend: Selbstverständlich würde er als Premier das Geld (100 Milliarden Pfund oder so) für die Erneuerung von Trident locker machen, darüber gäbe es in seiner Partei gar keine Debatte.

Tapete Records
Stephen Duffy ist der seltene Fall eines echten Achtziger-Jahre-Pop-Stars, der in den letzten 30 bis 37 Jahren von der Gründung von Duran Duran in die Charts und via Folk Revival zur Arbeit mit Robbie Williams und wieder zurück zum Folk Revival fand, ohne dabei ein Fünkchen Integrität zu verlieren.
"No Sad Songs", das erste Album seiner Band The Lilac Time seit acht Jahren, ist gerade bei Tapete Records erschienen.
Denn natürlich war dieser Angriff Fallons eine Falle gewesen, die provozieren sollte, dass die alten Dinosaurier_innen der Friedensbewegung aus der Labour-Linken ihre Köpfe aus den hochgezogenen Rollkrägen ihrer dicken Strickpullover recken würden.
Aber er ging ins Leere, denn da kam nichts und wenn überhaupt, dann nur so leise, dass es niemand hören konnte. Es gibt sie schon lange nur mehr in konservativen Fantasien, die Strickpullover in der Labour Party.
Selbst von den Greens, der SNP oder manchen Libdems, die gegen die nukleare Nachrüstung sind, hörte man bloß Argumente der Geldverschwendung oder der verfehlten militärischen Strategie. Die einst so zentrale moralische Frage, ob es überhaupt eine denkbare Situation gäbe, in der man solche Waffen je tatsächlich anwenden würde, spielt in der Mainstream-Diskussion gar keine Rolle mehr.
Und während sich das alles von Nachrichtensendung zu Fernsehdiskussion zu Leitartikel durchspielte, musste ich eben daran denken, was Stephen Duffy vor drei Wochen oder so in meinem Heartbeat-Interview sagte, als ich auf die zu dieser Zeit gerade brodelnde „Debatte“ über Kanye West als Headliner in Glastonbury zu sprechen kam.
Stephen hielt sich nicht einmal mit dem Ergründen der Umstände auf, unter denen ein rassistischer Clown mit seiner primitiv rockistischen, von der medialen Echokammer verstärkten Online-Protest-Petition gegen Wests Auftritt je soweit kommen konnte, der völlig entpolitisierten ehemaligen Großveranstaltung einer schon lange nicht mehr existenten Gegenkultur die unverdiente Gelegenheit zu geben, ihr gänzlich unüberraschendes Engagement eines Ko-Eigentümers von Tidal als mutige Geste darzustellen. Stattdessen kam er gleich zum Kern der Sache:
„Als ob es irgendeine Kontroverse gäbe. Als ob Glastonbury noch irgendetwas mit der Bewegung gegen die Atombombe zu tun hätte. Das war das große Anti-Atom-Festival, die hatten ein großes Friedenszeichen auf der Bühne hängen. Ich nehme an, das ist nicht mehr dort. Diese Leute sorgen doch einfach nur mehr dafür, dass alles läuft. Da herrscht überall dieselbe Faulheit, und niemand will mehr ernsthaft wo anstoßen.“
Das stimmt und öffnet in seinem nüchternen Realismus den Blick auf eine ideelle Ärmlichkeit der britischen Popkultur, die so weit über den Horizont reicht, dass man sich am liebsten den ganzen Tag lang im seelenheilenden Schlamm des rückhaltlosen Kulturpessimismus suhlen und dabei unter gelegentlichem Ausstoßen des Schlachtrufs „Bohemia Forever!“ das neue, seine willigen Patient_innen in eine Parallelwelt melodiöser Mellowness entführende Album von The Lilac Time hören möchte.
Am besten in Verbindung mit erwähntem Interview mit Stephen, das zwischen den Songs dieser wunderschönen Platte die zweite Hälfte meiner letzten Sendung füllte.

The Lilac Time
Die Antwort mit der Anti-Atombewegung ist darin übrigens dem Schnitt zum Opfer gefallen (es war ein langes Interview), dafür kommt aber das folgende, von einer Erwähnung des bevorstehenden Wahl-Erfolgs von UKIP in Duffys Wahlheimat Cornwall ausgelöste Zitat vor (hier auf Englisch, der Stimmigkeit zuliebe):
Duffy: "It's crazy times, isn't it? I suppose you never think there's going to be a rise in right-wing politics. It just seems so completely gormless. So stupid. But yet again, here we are. But then also in the times that I feel we make all of our records, which is probably somewhere in the sixties, seventies mindset, you know we didn't think that anybody would have any religion. You can't turn on the radio without somebody talking about faith. I can't believe that we got to this point that the elite, the moneyed are so far away from the ordinary people, and the ordinary people are sort of divided by faith and weird extreme politics. It certainly isn't the sort of bohemia I was thinking I was going to grow up into."
Ich: "But one is so pushed into this cultural pessimism all the time, and it's not a comfortable position to be in, because the mindset we were brought up with was to look forward to things getting better all the time."
Duffy: “And they did! When we had a prime minister here called Callahan after Heath and Wilson and before Thatcher, at that point the gap between rich and poor in Britain was at its smallest. When you're not aspirational in that way, but when there's a degree of equality, that's when creative things happen, because people can afford to live and people can afford to dream.”
Genau.
Daher jetzt mein Vorschlag für den Rest des Wochenendes: Erst einmal die Sendung bzw. The Lilac Time hören.
Das geht hier: FM4 Heartbeat vom 6.4.
Und dann am Montag vielleicht das Ding mit dem Akzelerationismus angehen.