Erstellt am: 10. 12. 2014 - 14:55 Uhr
"Die Armen können nicht kochen"
Ich bin ja froh, dass ich mich dann entschlossen hab, doch nicht bei dem Gegen-Hype/Anti-Gegen-Hype zu Live Aid 30 und dem auf so viele Weisen unentschuldbaren Text des dazugehörigen Weihnachtssongs mitzumachen.
Die Empörung wechselt so schnell die Richtung von Tweet zu Tweet, da kommt man mit der oberschlauen Senfabgabe hier gar nicht nach, ehe einem zu sehr davor graust.
Aber eine Textzeile, die eigenartigerweise immer unkritisiert blieb, ist die, die mir bei "Do They Know It's Christmas" fast am meisten aufstößt, vielleicht gerade, weil sie nichts mit bedauernswerter, aber zutiefst unüberraschender Ignoranz gegenüber Afrika zu tun hat, sondern mit ebensolcher Ignoranz gegenüber der unmittelbaren Umgebung im eigenen Land:
"And in our world of plenty we can spread a smile of joy"
Unsere Welt des Überflusses, "our world of plenty". Das ging sich schon 1984 schwer aus, als es drei Millionen Arbeitslose im Land gab und die Minenarbeiter streikten.
Im Großbritannien des Jahres 2014, nach bald fünf Jahren Austerität, klingt dieser Satz einfach nur mehr obszön.
Es mag an Bob Geldofs Kreisen vorbeigegangen sein, aber heute leiden in Großbritannien bereits 3,5 Millionen Menschen an Hunger, das sind schockierende fünfeinhalb Prozent der Gesamtbevölkerung.
Geschätzte 500.000 Kinder sind unterernährt, weil ihre Eltern sich das Essen nicht mehr leisten können. Wenn man die Belastung durch Wohnkosten mit einrechnet, lebt in Großbritannien ein Viertel aller Kinder (!) in Armut.
In den ärmsten, sowie manchen der teuersten Gegenden sind es gar mehr als die Hälfte der Bevölkerung, von Tower Hamlets in Ost-London bis Westminster, von Lincolnshire bis nach Thanet am östlichsten Zipfel von Kent (wo bei den Wahlen UKIP-Chef Nigel Farage kandidieren und die Schuld dafür auf EU und Ausländer_innen schieben wird).
In London, wo sich der meiste Reichtum konzentriert, sind auch die Hungrigen und Verarmten bei weitem am Dichtesten versammelt. Soviel zur nicht totzukriegenden Theorie des von oben nach unten durchsickernden Reichtums, auf die sich Margaret Thatchers Monetarismus zu berufen pflegte.
Dass der sagenhafte "Trickle Down Effect" eine Chimäre war, sagt Großbritannien mittlerweile sogar ganz offiziell die OECD (wenn auch nur mit dem Argument, dass Ungleichheit dem Wachstum schadet, so als wären die Folgen der Armut allein nicht Grund genug, was dran zu ändern).
Wie akut die Ernährungskrise im nominell viertreichsten Land der Welt geworden ist, lässt sich seit vorgestern in einem von der anglikanischen Kirche gesponserten, von einem Komitee aus konservativen und Labour-Abgeordneten zusammengestellten Bericht mit dem Titel Feeding Britain nachlesen.
Obwohl nicht ganz klar ist, ob alle in der Einleitung angeführten Koautor_innen das auch selbst getan haben.
Eine von ihnen, Lady Jenkin, belebte jedenfalls am Montag die Präsentation der Erkenntnisse des Komitees mit ihrer persönlichen Theorie, die armen Leute könnten eben nicht kochen (ja doch, im Gegensatz zu Marie Antoinettes berühmtem, aber erfundenem Kuchenspruch hat sie das tatsächlich gesagt).
Im Report selbst wird der Hunger freilich nicht auf einen Mangel an kulinarischer Bildung im Pöbel zurückgeführt, sondern auf stagnierende Löhne, einen überproportionalen Anteil an Niedrigstlohnbezieher_innen (die Mehrzahl der Sozialhilfebezieher_innen in Großbritannien ist berufstätig), explodierende Individualverschuldung, die weit schneller als die Löhne steigenden Wohn- und die eskalierenden Energiekosten (die im letzten Jahrzehnt doppelt so schnell wie in Deutschland, fast dreimal so schnell wie in Frankreich hinauf gingen).
Dazu kommen Sanktionen gegen Sozialhilfeabhängige, zum Beispiel wegen formaler Fehler oder verpasster Vorstellungsgespräche bzw. die oft monatelangen Verzögerung der Auszahlung von Sozialhilfe aus administrativen Gründen (das Sozialamt arbeitet nun schon seit Jahren an Minister Iain Duncan Smiths persönlichem grand projét einer Vereinheitlichung aller Beihilfen, und alles geht schief).

canterburyfoodbank.org
Erst letztes Jahr behauptete der konservative Work & Pensions-Staatssekretär Lord Freud, die wachsende Zahl der Ausspeisungen und Food Banks, wo sich die Ärmsten ihre Nahrung holen, habe nichts mit Sozialkürzungen zu tun, sondern sei vielmehr darauf zurückzuführen, dass dieses Angebot überhaupt existiere. Denn für Gratis-Essen gebe es eben eine unbegrenzte Nachfrage.
An solchen Bemerkungen erkennt man dann jemand, der noch nie arm war und nicht das Gefühl der Demütigung und der Schande kennt, das mit dem Annehmen von Spenden verbunden ist. Aber man braucht nicht einmal dem Anstand der Armen zu vertrauen, ein Blick auf die Zahlen reicht auch:
Allein die größte, aber bei weitem nicht einzige britische Foodbank-Organisation The Trussell Trust gab 2014 Notpakete an über 916.000 Menschen aus. Das sind mehr als siebenmal so viel wie drei Jahre zuvor.
Das einzige, was sich in diesen drei Jahren genauso radikal geändert hat, war das Schrumpfen und die Umorganisation des Sozialstaats unter dem enthusiastischen Applaus der Boulevardpresse.
Im vergangenen Jahr stieg allein die Zahl der dauerhaft erkrankten und behinderten Menschen, denen ihre Beihilfen ausgesetzt oder aberkannt wurden (siehe hier etwa den Fall einer Sehbehinderten, die ein Formular falsch ausgefüllt hatte), um 700 Prozent.
Ideologiebedingt blind, wer da keine Parallele erkennen kann.
Wenn der britische Arbeitsmarkt, auf dessen "internationale Konkurrenzfähigkeit" die Regierung so stolz ist, mit seiner steigenden Tendenz zu unsicheren Nullstundenverträgen, unbezahlten Praktika und Testperioden, Scheinselbständigkeit und der Wandlung des gesetzlichen Mindestlohns von der absoluten Untergrenze zum De-facto-Normlohn für niedrig qualifizierte Arbeit die Werktätigen nicht mehr ernähren will, dann wird der Sozialstaat vom Fangnetz in der Not zur Existenzgrundlage.
Insofern hatte Lord Freud ja schon recht, bloß nicht so, wie er glaubt: Die Wohltätigkeitsorganisationen sollten in der Tat nicht dazu da sein, die Armen zu ernähren. Das sollte der Sozialstaat erledigen. Und der Sozialstaat sollte nicht dazu da sein, die Löhne aufzubessern, damit Leute, die arbeiten, nicht hungern müssen.
Der "Feeding Britain"-Report empfiehlt, dass die Supermärkte ihr unverkauftes Essen nicht wegwerfen, sondern spenden sollen. Und er spricht vom Ziel eines "Living Wage", also eines höheren Mindestlohns, der die Lebenserhaltungskosten deckt.
Dessen gesetzliche Einführung, wie die Labour Party sie fordert, wäre wohl auch ein willkommener Schritt, aber das ändert nichts an der systemimmanenten, immer krasser werdenden Ungleichheit, die die Früchte des viel gelobten Wachstums von immer weiteren Teilen der Bevölkerung fern hält und das bloße Leben in dem Land, wo sie arbeiten, von Jahr zu Jahr unerschwinglicher macht.
Doch, Bob Geldof, Lady Jenkin, Lord Freud: Sie wissen sehr gut, dass Weihnachten ist, die Hungrigen in Großbritannien.
Das merken sie daran, dass es dann auch noch richtig kalt wird.