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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

23. 11. 2014 - 20:08

Ein Furz in der Underground

Warum ich gerade echt keine Lust habe, mich einbürgern zu lassen.

Man weiß gar nicht, wie und wo man anfangen soll.

Vielleicht am besten mit einer kleinen Entschuldigung dafür, dass mein Blog sich heuer geradezu obsessiv mit dem eh immer schon vorhandenen Chauvinismus meines Gastlandes befasst. Aber bedauerlicherweise drängt sich das Thema auf, auch drei Tage, nachdem in der by-election des Wahlkreises Rochester & Strood mit dem Satire-tauglich benannten Mark Reckless der zweite Überläufer von den Tories zu den Rechtspopulisten von UKIP einen Unterhaussitz gewonnen hat.

In der Nacht vom Sonntag auf Montag hatte ich hier ja meinen Atomium-Blog aus Brüssel zum populären Thema „kollektive Utopien versus Tücken der privaten Weltraumfahrt“ veröffentlicht. Ihr mögt ihn verpasst haben, es war zwei in der Früh.

Falls der Eindruck entstanden sein sollte, dass ich im Atomium nur Richtung Himmel gestarrt hätte, darf ich den nun hier widerlegen.
Neben dem zugegebenermaßen nicht zu den zehn Weltwundern zählenden Brüsseler Panorama genießt man von dort aus nämlich immerhin eine zusammenfassende, unbehinderte Aussicht auf Mini Europe, eine Art (west-)eurozentrisches Minimundus. An dessen Schengengrenzen zeugt der Schriftzug „Spirit of Europe“ in fetten gelben Lettern von optimistischeren Zeiten.

Spirit of Europe Schriftzug

Robert Rotifer

Ich weiß nicht, ob sie dann in drei Jahren oder so nach vollzogenem Brexit die Schrumpfversion der Houses of Parliament am unteren Bildrand abtragen, oder ob sie einen hohen Zaun drum herum bauen werden.

Mini Europe von oben

Robert Rotifer

Oder ob man sich seine Bewegungsfreiheit mit einem zusätzlichen Eintrittspreis erkaufen kann (wie die USA, soll nach den Vorstellungen der Labour Party auch Großbritannien künftig von visumspflichtigen Besucher_innen Geld für Visa Waivers verlangen).

Die abermalige Demontage des britischen Parteiensystems, wie sie am Donnerstag in Rochester & Strood passiert ist, war jedenfalls einfach nur logisch.

Die Konservativen warfen alles in die Schlacht, um diesen symbolisch wichtigen Sitz zu retten, und David Camerons völlig unhaltbarer Vorstoß gegen das Kernprinzip Bewegungsfreiheit innerhalb der EU war ein Teil davon. Ein sinnloser Selbstfaller in Gestalt eines weiteren unerfüllbaren Ziels als künftige Munition für UKIP, falls Cameron 2017 tatsächlich behaupten sollte, er habe bei den sogenannten Reformverhandlungen in Brüssel was erreicht.

Und Labour, die auf dem dritten Platz landeten und sich von vornherein nicht die geringste Chance auf einen Sieg ausmalten (erstaunlich, wenn man bedenkt, dass diesen Sitz bis 2010 mit Bob Marshall-Andrews ein bunter Hund ihrer Parlamentsfraktion hielt), suchten ihre Schadensbegrenzung absurderweise darin, der Rhetorik der beiden Rechtsparteien nachzuhecheln.

Es sei Labours Fehler gewesen, sagte die Schatteninnenministerin Yvette Cooper vor dem Wahltermin, die unbegrenzte Einwanderung aus der EU zu erlauben. Man werde daher eine zweijährige Frist einführen, ehe Einwander_innen sich am britischen Sozialsystem bedienen könnten.

Die Schattensozialministerin (Shadow work and Pensions Secretary) Rachel Reeves setzte noch einen drauf: In Zukunft werde man keine Beihilfen für erwerbstätige EU-Einwander_innen („in-work benefits“) auszahlen.

Und heute steht schon auf der Titelseite der Sunday Times zu lesen, dass Cameron Sozialleistungen für EU-Migrant_innen „verbieten“ wolle.

In der Zwischenzeit musste Labours Shadow Attorney General (Schattenoberstaatsanwältin) Emily Thornberry gleich nach der Rochester-Wahl zurücktreten, weil sie skandalöserweise ein Foto eines mit England-Fahnen eingedeckten Hauses samt davor geparktem weißem Lieferwagen und dazu die Worte „image from Rochester“ getweetet hatte.

Labour-Chef Ed Miliband ließ uns wissen, er sei deshalb „so zornig wie noch nie“ gewesen, denn, so der aus tausend Kehlen kommende Chor der Medien, der Tweet verkörpere Labours Entfremdung von der Working Class.

Völliger Irrsinn eigentlich, zumal jedeR, der/die in England wohnt, genau weiß, was es geschlagen hat, wenn irgendwer seine Bleibe mit England-Fahnen schmückt. Natürlich kann man daraus den Rückschluss ziehen, dass es sich da um einen Jingoisten ersten Ranges handeln dürfte, der tendenziell zu UKIPs Zielpublikum gehört.

Dass Labour nicht imstande ist, diese banale Beobachtung auszusprechen, und sich stattdessen in Verrenkungen der Scham entgeht, kommt genau daher, dass man sich mit obigen Aussagen ziemlich sinnloserweise dieser Klientel angebiedert hat.

Und genau darin, nicht im durchaus berechtigten Ekel vor den Fahnenwedlern, liegt das Fürdummverkaufen der Ex-Kernwähler_innenschaft. In der Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass es auch unter dem Proletariat Leute geben könnte, die schlau genug sind, zwischen Weltoffenheit und Little Englander-Chauvinismus zu unterscheiden.

Als Miliband am Tag darauf gefragt wurde, was ihm durch den Kopf gehe, wenn er einen weißen Lieferwagen sieht, sagte er „Respekt“. Eine auf anmaßendere Weise gutgemeinte Antwort hätte ihm kaum einfallen können.

Kein Mensch, der genug White Van Men aus der Nähe kennt, um den Stereotyp von der breiten Palette unterschiedlichster Typen unterscheiden zu können, die im echten Leben hinter deren Steuer sitzen – wie in jeder anderen Lebenslage auch –, wäre auf irgendetwas anderes gekommen als: „offenbar ein Handwerker.“

In diesem Fall, aufgrund der England-Flaggen am Haus: Offenbar ein Handwerker mit England-Fetischismus. Ziemlich wahrscheinlich also einer derjenigen, die behaupten, die Konkurrenz aus dem Ausland nähme ihm seine Jobs weg. Man sollte meinen, Labour-Politiker_innen wüssten sowas zu verbalisieren und ihren eigenen Überzeugungen gegenüberzustellen.

Aber nein, sie haben zuviel Angst vor dem White Van Man, den die Sun am nächsten Tag schon zu einem Volkshelden macht, der ihren Leser_innen vom Titelblatt weg Gratis-England-Fahnen „as sneered at by Emily Thornberry“ („wie von Emily Thornberry belächelt“) anbietet.

Sun-Titelblatt mit White Van Man

Robert Rotifer

Gut, dass ich gestern Abend bei der Geburtstagsfeier einer Freundin einem Labour-Aktivisten vorgestellt wurde, der dann meinen ganzen Zorn darüber in konzentrierter Form einstecken musste, bevor ich ihn hier in aller Öffentlichkeit ausgelassen hätte.

Wie kürzlich vom University College London wissenschaftlich nachgewiesen, ist das von UKIP verbreitete Bild, wonach EU-Migrant_innen Großbritannien auf der Tasche lägen, nämlich eine fiese Fiktion. Tatsächlich leisten diese Einwander_innen einen erheblichen Beitrag zur britischen Wirtschaft.

Eh logisch. Sie sind durchschnittlich jünger, sind nicht in Pension oder Ausbildung (die hat ihnen ihr Herkunftsland finanziert, dem jetzt die qualifizierten Arbeitskräfte davon laufen). Sie sind gekommen, um zu arbeiten und nicht unbedingt um zu bleiben, mehrheitlich auch ohne Familie. Im Gegensatz zu den britischen Rentner_innen in Spanien und Frankreich nehmen sie das Gesundheitssystem ihrer Wahlheimat nur zu einem geringen Maß in Anspruch.

Die Tatsache, dass man das überhaupt aufrechnen muss, ist im Kern zwar schon diskriminierend und inakzeptabel, denn was wäre fair, wenn nicht ein Teilen sozialer Bürden im Gegenzug zu den wirtschaftlichen Effekten europäischer Integration?

Aber man kann zumindest festhalten, dass der Neidkomplex schon in seinen ursprünglichen Annahmen auf verdrehten Fakten beruht.

Dessen ungeachtet lässt Labour sich auf die Mär vom Gesundheits- und Sozialleistungstourismus ein, die die wahren Ursachen für das Krachen des Systems verschleiert: Nämlich Kürzungen im Gesundheits- und Sozialsystem wegen fallender Staatseinnahmen, bedingt unter anderem durch die Steuervermeidungsstrategien der Großkonzerne, aber auch durch sinkende Lohnsteuereinnahmen dank sinkender Reallöhne.

All das bleibt undiskutiert bzw. wird osteuropäischen Einwander_innen in die Schuhe geschoben. Und das, so sagte ich dem mir gerade erst von der Gastgeberin vorgestellten Labour-Aktivisten ins Gesicht (nur geringfügig alkoholisch enthemmt), mache einige seiner Parteigenoss_innen technisch und praktisch gesehen zu Kompliz_innen von UKIPs xenophober Hetzkampagne.

Natürlich war er darüber einigermaßen entrüstet. Yvette und Rachel und all die anderen in der Labour Party seien grundanständige Leute.

Das, sagte ich, glaube ich ihm gern, denn es braucht grundsätzlich immer die Mitarbeit der anständigen Leute, um Xenophobie und Rassismus salonfähig zu machen.

Aber es führt einfach nichts dran vorbei: Jemand, der/die Steuer zahlt, die ihm/ihr dafür im Gegenzug zustehenden Sozialleistungen zu entsagen, weil er/sie ein anderes Wappen auf dem Pass hat und deshalb in diesem Land nicht wahlberechtigt ist, das ist praktisch die Definition von ethnischer Diskriminierung.

Detto: Wenn, wie Rachel Reeves behauptet (in der Mail Online noch dazu, zu der hier aus Prinzip nicht verlinkt wird), die Auszahlung von Sozialhilfe für Erwerbstätige (Working Tax Credit, Child Tax Credit, beide in den Nullerjahren von Gordon Brown eingeführt) an arbeitende EU-Migrant_innen komme einer staatlichen Subventionierung von Niedriglöhnen gleich, dann stimmt das zwar völlig. Es trifft aber ganz genauso auf die Inländer_innen zu. Jede Differenzierung zwischen Migrant_innen und hier geborenen ist also auch in diesem Fall pure fremdenfeindliche Diskriminierung.

Selbst die allen Parlamentsparteien (außer den Greens) zufolge angeblich so unhaltbare Praxis, dass in Großbritannien arbeitende EU-Bürger_innen für Kinder, die zuhause in Osteuropa wohnen, britische Kinderbeihilfe beziehen, kann eigentlich nur falsch finden, wer in Britannien geborenen Kindern einen höheren Wert zumisst.

Schließlich zahlen diese Arbeiter_innen ja britische Steuern, werden also daher keine Kinderbeihilfe in ihrem Herkunftsland beziehen können. Wieso also nicht hier, wo sie's genauso verdient haben wie all ihre anderen steuerzahlenden Kolleg_innen? Der Umstand, dass diese Kinder nicht einmal einen Platz in einer britischen Schule in Anspruch nehmen, sollte den Boot-ist-voll-Demagog_innen doch eigentlich gefallen.

Aber all das ist viel zu rational, um in diesem vergifteten Klima eine Rolle zu spielen. Kurz bevor er die Wahl in Rochester & Strood gewann, leistete sich der Kandidat Mark Reckless ein strategisches „Missverständnis“: Er sagte, dass EU-Migrant_innen künftig nur für eine begrenzte Zeit in Großbritannien werktätig sein dürften, bevor man sie wieder nach Hause schickt. Das stehe nicht im Parteiprogramm, korrigierte ihn später sein Chef Nigel Farage.

Aber gesagt ist gesagt. Der Gedanke steht im Raum wie ein Furz in der Underground.

Und die heutigen Standpunkte von Labour und Tories klingen genauso wie die UKIP-Avantgarde von gestern.
Wer weiß, was morgen kommt.

UKIP, sagte mein Labour-Aktivist dann gestern noch bei der Geburtstagsfeier, nachdem ich noch ein paar versöhnliche Vergleiche mit Österreich nachgelegt hatte, wo's ja auch nicht anders sei, seien am Ende bloß „dummer Arschlöcher, aber keine richtigen Rassisten wie diese Typen da drüben am Kontinent.“

Das klang ja selber schon wie UKIP, fand ich im Stillen, ließ es aber bleiben, und sagte gar nichts.
Interessanterweise schien er dieses Schweigen sehr genau zu verstehen.

Bei der Verabschiedung riet er mir mit Handschlag, mich einbürgern zu lassen, damit ich mich politisch beteiligen könne. Ich hätte schon recht gehabt mit dem, was ich über Yvette Coopers Ausritt gesagt hätte.

Das war ehrlich nett gemeint.

In dem Moment hatte ich fürs erste aber keine rechte Lust, Brite zu werden.