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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

30. 10. 2014 - 01:40

"We know it's special"

Die Young Fathers gewinnen verdient den Mercury Prize 2014. Und gleich danach fällt der Sender aus.

Es ist diese Jahreszeit, wo in Britannien die roten Papiermohnblumen auf den Mantelkrägen auftauchen, und wir schauen wieder einmal Mercury Prize (den Namen der sponsernden Bank lass ich weg, darf ich das?), heuer übertragen auf More 4, einem Zugabensender von Channel Four.

Ich versuche mir vorzustellen, wie sich das für Leute anfühlt, die über das Digitalnetzwerk Freeview auf Kanal 14 gestolpert sind:

Ein sehr starkes Jahr sei das gewesen für die britischen Musikindustrie, behauptet eingangs Alice Levine von Radio One, die von der Preisverleihung im Roundhouse in Camden aus eine kleine Studio-Runde moderiert.

Sowieso. Immer. Darf gar nicht anders sein.

* Es gibt eine Anmeldungsgebühr von £170 Pfund plus 20% MwSt., und pro Jahr finden sich 200 bis 250 Releases, für die ein Label diesen Einsatz zu bieten bereit ist. Diese und andere konkrete Umstände lassen sich zugegebenermaßen kurzweilig bei Vice nachlesen.

Jen Long von Dice FM wirft pressetextfähige Zitate aus als gäbe es kein morgen, aber ich kann sie mir nicht einmal den halben Meter bis zur Tastatur weit merken. Shaun Keaveny von BBC 6Music erklärt, dass die 20 Pfundtausender Preisgeld (die sich seit Beginn des Mercury Prize nicht vermehrt haben), heute ein "big deal" seien*, "the way the record industry is going" (Euphemismus).

In anderen Worten, es gibt keine Budgets, und trotzdem reden die Leute in der Runde hier irgendwas von goldenen Lamborghinis und Reisen nach Miami (der Zusammenhang ist mir gerade entgangen), als wären wir noch in der alten Musikbusinesswelt des Überflusses zuhause.

Wir sind nämlich bereits bei der Vorstellung der Nominierten angelangt, die in Superlativen und glamourös gemeinten Infohäppchen ruckzuck abgehandelt wird.

Ich höre, dass FKA Twigs für Gxxgle Glass Werbung gemacht hat, und verliere augenblicklich jegliches Interesse an ihrer Kunst.

Damon Albarn, erfahren wir, sei am Besten, wenn er kollaboriert, solo aber ebenfalls am Besten, weil er auch solo kollaboriert. Makes sense.

Jungle sind angeblich „super-slick“, meint Keaveny, der aber andererseits auch von Anna Calvis schürfender Telecaster aufgewühlt werden will.

Go Go Penguin klängen laut Long, als stecke man in einem Video von hab vergessen wem fest. Vergessen hab ich, weil sich inzwischen die Runde anlässlich dieser Nominierung bereits in beschämten Entschuldigungen bei den Seher_innen ergeht. Ja, man könne von Jazz so leicht abgestoßen sein, sollte man aber in diesem Fall nicht, weil… und ich will schon wieder schreien: Das hier ist der verdammte Preis, bei dem jedes verdammte Jahr ein oder zwei Jazz-Alben als Alibi nominiert sind, für das man sich dann aber erst recht geniert aus lauter Angst vor dem Ausschaltimpuls.

Kate Tempest weiß genau, was sie zu sagen hat, aber ziemlich angestrengt, Polar Bear haben wir hier schon einmal gesehen und wissen, dass Royal Blood oder Nick Mulvey oder East India Youth nicht schlechter, besser und schon gar nicht mit ihnen vergleichbar sind, aber schon wieder muss die Kritiker_innenrunde sich dafür entschuldigen, dass Polar Bear Jazz machen. Man sei ganz gestresst, sagt Long, wenn man das höre und plötzlich "a clarinet or something in your face" sei. "Definitely the most avantgarde album on the list." Avantgarde? 2014? Keaveny sagt, das Album habe "bits", die seien "beautiful". Nicht, dass wir davon mehr als ein paar sekundenkurze Fetzen zu hören kriegten.

Mir fällt indessen auf, dass niemand außer mir auf meiner Twitter-Timeline Mercury schaut. Und da sind reichlich Musikschreiber_innen drunter, die sonst jeden Furz auf Jools Hollands zunehmend lähmender Show Later, ja sogar X-Factor kommentieren.

Im Roundhouse geht es munter weiter, schon schreiten wir zur Preisverleihung. Jen Long will, dass Young Fathers mit ihrem Album „Dead“ (Anticon/Big Dada) gewinnen, Keaveny will Kate Tempest.

Drüben auf der Bühne öffnet Nick Grimshaw von Radio One den Umschlag, und schau an, es sind tatsächlich Young Fathers geworden.

Young Fathers

Young Fathers

"Thank you, we love you", sagen sie mit steinernen Mienen, als sie sich ihren Gong abholen, mehr nicht. Arroganz als Understatement, kommt immer gut.

„Jen und Shaun“, sagt Alice, „wir müssen das diskutieren.“
„Niemand hat das erwartet“, sagt Jen (ziemlich ungerecht zu sich selber), aber sie sei so glücklich, denn "justice has been served," schließlich habe sie persönlich schon 2010 die Young Fathers veranstaltet, als sie noch auf Day-Glo NuRave machten (Ob die das selbst wohl auch so sehen?).

Keaveny ist auch "happy, to be perfectly honest" (Obacht vor Installateuren, die sowas sagen). Das sei das Großartige am Mercury Music Prize, dass solche Dinge passieren können.

Solche Dinge, wie dass ein nominiertes Album gewinnt, zum Beispiel.

Man kann die Young Fathers mit gar nichts vergleichen, darüber sind sich schließlich alle einig, und die arme Alice Levine muss noch neue Formulierungen für diese kürzeste Sackgasse unter allen Stehsätzen finden, als sie Kayus, Alloysius und Graham frisch von der Bühne weg interviewt.

„Was würdet ihr zu eurem vierzehnjährigen Ich sagen, jetzt wo ihr den Preis gewonnen habt?“
„Wir wollten Musik machen, die größer ist als unsere Stadt“, meinen die Young Fathers, die heuer schon den Scottish Album of the Year Award gewonnen haben und sich danach von dieser nationalen Zuordnung distanzierten, schließlich kommen sie zu je einem Drittel aus Liberia und Nigeria.

Seien sie nun ultra Hip Hop oder gar nicht Hip Hop, fragt Levine. Weder noch, sondern „free“ sagen die Young Fathers, „We know it's special.“

Und dann bricht die Übertragung wegen eines technischen Gebrechens ab. „Such a shame, they were just talking to us there“, sagt die unsichtbare Ansagerinnenstimme und in eleganter Umgehung des Bandnamens, an den sie sich gerade nicht erinnern kann.

Wir drehen um. Nachrichten.

Young Fathers "Dead"

Anticon

Die Young Fathers gewinnen den Mercury Prize für ihr Album "Dead"

Ein ziemlich gutes, aktuelles Interview mit den Young Fathers ist hier bei DrownedinSound nachzulesen. Der Spätarbeiter Alexis Petridis vom Guardian brachte die Bedeutung ihres Siegs noch in derselben Nacht auf den Punkt. Und Philipp L'heritiers schöner Text von vor zwei Jahren gilt sowieso nach wie vor.

Aus Fernsehperspektive ist jedenfalls das Ergebnis das weitaus Beste an diesem Abend. Ich sage „Abend“, dabei dauerte die ganze Übertragung heiße 50 Minuten.

Ich hab nachgezählt, es ist der 18. Mercury Prize, den ich jetzt schon in Großbritannien miterlebt hab, und wenn ich nach all diesen stärksten Jahren von überhaupt je, all den besten Bestenlisten seit Menschengedenken und all den feuchtaugigen Zukunftsbeschwörungen noch nicht abgeklärt wäre, dann wär ich doch wirklich deppert.

Ich kann mich aber vor allem an Fernsehübertragungen erinnern, als es tatsächlich noch den Versuch gab, sich tatsächlich mit den Alben zu beschäftigen, um die es da ging. Als man dem Publikum zum Beispiel was von der Musik vorspielte, oder gar – was für eine ausgefallene Idee – die Bands live im Fernsehen auftreten ließ.

Die No Frills-Sparversion, die da heute (mittlerweile gestern) Abend geliefert wurde, hatte dagegen keinerlei Beziehung zum Albumformat, das hier der Form nach eigentlich gefeiert werden sollte.

Vor allem aber wirkte sie für einen Prestige-Preis wie diesen wie das kleinste mögliche Aufgebot nördlich der öffentlichen Wahrnehmungsgrenze. Wie lange noch dieser Preis? Und wie lange faseln wir hier noch von einer Industrie?

Die Young Fathers spielen übrigens am 6. November im Linzer Posthof als zweite Headliner vor den vom britischen Hype-Zyklus nach ihrem Moment an der Sonne vor anderthalb Jahren schon wieder ausgespuckten Palma Violets nebst Merchandise, The Boys You Know und Olympique.