Erstellt am: 16. 10. 2014 - 18:43 Uhr
Es reicht, ich will meine Stimme!
Heute morgen flatterte mir die Lokalzeitung ins Haus. Sie ist unter jedem Hund, die Kentish Gazette, kein Vergleich mit dem Camden New Journal, das mir als in die Einschicht verzogenem ehemaligem Ex-Nord-Londoner am alten Zuhause vielleicht am meisten abgeht. Nicht ganz im Ernst, aber fast.
Heute also titelte die Kentish Gazette, jenes von mir eigentlich nur wegen seiner News über die örtliche Bauspekulations- und Verkehrspolitik abonnierte Zentralorgan eines imaginären Spießerkonsens, mit einer Story über Flüchtlinge, die über den Kanal gekommen sind und sich angeblich, obwohl sie schon erwachsen sind, als Jugendliche ausgeben, um sich so Zutritt zu öffentlichen Schulen zu verschaffen.

Robert Rotifer
„Refugees entzünden Angst um Sicherheit der Schüler_innen – Asylsuchende lügen über ihr Alter, um sich bilden zu lassen – Männer in ihren Zwanzigern werden in Schulen mit Elfjährigen untergebracht – Direktor_innen beschweren sich, dass man wenig über ihren Hintergrund weiß.“ Dazu gänzlich zusammenhangslos ein Agenturbild von jungen Asylwerbern mit etwas dunklerer Hautfarbe.
Nun hab ich mir den „FULL REPORT“ auf Seiten acht und neun mit der Überschrift „Männer in ihren Zwanzigern lügen über ihr Alter und gehen zur Schule“ durchgelesen und finde darin keine konkrete Spur lügender Männer, sondern vor allem den Direktor der örtlichen katholischen Sekundärschule, der behauptet, ihm seien von den Behörden angebliche Teenager zugeteilt worden, die tatsächlich wohl schon um die 20 oder 21 gewesen dürften.
Ob sie das auch tatsächlich waren, erfahren wir genauso wenig wie ihre Anzahl, aber in einem von der Zeitung als „FACTILE“ (gemeint war wohl „fact file“) betitelten Infokästchen ist zu lesen, dass das Kent County Council in den öffentlichen Schulen der gesamten Grafschaft heuer gezählte 10 (z-e-h-n!) unbegleitet eingewanderte Flüchtlingskinder untergebracht habe. Ganze 3 (d-r-e-i!) davon im Bezirk Canterbury, wo meine Lokalzeitung erscheint.

Robert Rotifer
Die mitschwingende Andeutung, dass diese Flüchtlinge sich etwa aus pädophilen Motiven oder krimineller Bildungswut in die Schulen schleusen, ist dermaßen strohdumm und primitiv, dass man eigentlich nur mehr drüber lachen wollte.
Den ernsten politischen Hintergrund bringt allerdings ein anderer – dem Eindruck der Ausgewogenheit zuliebe – zitierter, besonnener Schuldirektor zur Sprache, wenn er sagt: „Sicher ist Einwanderung nur einer von vielen Faktoren, die auf unsere erzieherischen, ökonomischen, politischen und sozialen Systeme einwirken. Aber wenn eine andere Wirkung davon sich in Vorurteil und Diskriminierung äußert, will ich damit nichts zu tun haben. Ich fürchte, dass solche Manifestationen des Nationalismus, wie schlau sie sich auch immer in biertrinkende, burschenhafte Bonhomie kleiden mögen, mir wenig zu sagen haben.“
Jeder weiß, was damit gemeint ist, schließlich versäumt die Kentish Gazette Woche um Woche keine Gelegenheit, einen biertrinkenden Nigel Farage ins Blatt zu rücken. Die als Anti-EU-Plattform mittels fremdenfeindlicher Meuchellegenden zu Popularität gelangte Fraktion UKIP agitiert derzeit in Kent noch massiver als sonst, zumal in fünf Wochen im nahen Wahlkreis Rochester & Strood eine By-election stattfindet (siehe diese Story zum UKIP-Sieg im Wahlkreis Clacton-on-Sea von letzter Woche).
Nichts an alledem sollte mich eigentlich wundern. Aber was sich immer dringlicher anfühlt, ist der eigene Eindruck der Machtlosigkeit.
Es ist die Sorte Situation, in der ein derart ekelhaft stinkender, scharfer Wind durch die Gesellschaft weht, dass es keinen Spaß mehr macht, seine Wahlheimat aus der ironischen Distanz des Zuwanderers zu betrachten. Die Art von Klima, in der man sich am Liebsten politisch engagieren, zumindest aber gern von einem demokratischen Recht Gebrauch machen würde, das mir aber nicht gehört.
Ich bin hier nämlich ein Russell Brand wider Willen.
Ich lebe nun schon seit bald 19 Jahren in diesem Land. Seit bald 19 Jahren zahle ich hier Steuern. Aber ich wähle nicht. Weil ich nicht darf.
Man findet diese Ungerechtigkeit als EU-Einwanderer zunächst ja relativ unerheblich. Ein Luxusproblem.
Was macht schon meine Stimme aus?
Man hat ja seinen Einfluss unter den Freund_innen, mit denen man spricht.
Man kann demonstrieren gehen, in sozialen Medien seine Meinung loswerden.
Man kann in den Gemeinde- und bei den Europawahlen und natürlich auch alle vier Jahre in dem Land wählen, wo man herkommt, aber eben schon lange, lange nicht mehr wohnt.
Wie ein Idiot rühre ich an der österreichischen Supermarktkasse in meinen Münzen um, weil ich auch 2014 noch immer noch nicht so ganz mit dem Euro-Schotter vertraut bin (immer spannend der Blick der Kassierin, wenn ich ihr das zu erklären versuche).
Aber ich soll wissen, wer das Land regieren sollte.
Dort, wo ich täglich – ebenso idiotisch – die Radionachrichten anschreie, traut man mir das dagegen nicht zu.
Der Aufstieg von UKIP hat mir vor Augen geführt, dass die Konsequenzen dieses vermeintlichen Schönheitsfehlers im EU-Recht wesentlich tiefer gehen. Denn da die zweieinhalb bis drei Millionen EU-Bürger_innen, die hier wohnen, nicht wahlberechtigt sind, spricht die politische Kaste ausschließlich für ein von Medien und Politik taktisch desinformiertes, inländisches Publikum. Die Verzerrung der politischen Botschaften ist also systemimmanent.
David Cameron zum Beispiel hat erst heute wieder in einer Ansprache in Kent von einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit in der EU gesprochen, um eine Migration seiner Wähler_innen in Richtung UKIP abzufangen, und Labours Ed Balls stieß am Dienstag ins selbe Horn, als er eine diesbezügliche Änderung des EU-Abkommens in Aussicht stellte.
Seine Begründung: „Die Leute wollen wissen, dass Leute, wenn sie kommen, ihren Beitrag leisten und ihre Steuern zahlen werden.“ Das empfand ich als britischer Steuerzahler ohne Wahlrecht dann doch als eine gewisse Chuzpe.
Wenn die Leute das wirklich wissen wollen, dann bräuchte Ed Balls ihnen das schließlich bloß zu sagen. Entgegen dem von den Medien vermittelten Eindruck, den einer wie Balls mit seiner Anbiederung an die rechtspopulistische Linie bloß noch bestärkt, leisten Einwander_innen aus der EU nämlich ganz eindeutig einen gehörigen Netto-Beitrag zur britischen Wirtschaft.
Britische Staatsbürger_innen glauben laut Umfragen im Durchschnitt, dass 60 Prozent der Migrant_innen mehr vom Staat erhalten, als sie an Steuern einzahlen. Tatsächlich zahlen sie, da sie meistens im arbeitsfähigen Alter sind, um 34 Prozent mehr ein, als sie rauskriegen.
Die Wahrheit ist: Ohne Einwanderung ginge sich in Großbritannien gar nichts mehr aus, genauso wie in Österreich. Aber dieser wesentliche Teil der Bevölkerung und Arbeitskraft ist politisch völlig unrepräsentiert und gibt somit einen idealen Sündenbock her.
Ich ertappe mich nun selbst bei einer diskriminierenden Differenzierung: Wieso rede ich hier nur von EU-Einwander_innen? Sollten Einwander_innen von außerhalb der EU nicht genauso eine Stimme haben?
Natürlich, sie sollten. Aus genau denselben Gründen mit genau demselben Recht. Ein Unterschied zwischen EU- und klassischer Einwanderung ist aber schon festzustellen:
Wer sich sein/ihr Aufenthaltsrecht erkämpfen muss, strebt zumeist irgendwann nach der Staatsbürgerschaft. Das hätte ich als Einwanderer aus einem Nicht-EU-Land wohl längst getan und werde ich auch so vielleicht irgendwann tun.
Das Modell der EU-Bewegungsfreiheit war allerdings nicht vordringlich zur Ermöglichung des Staatenwechsels in nur eine Richtung gedacht, sondern als Basis für ein europäisches Leben über die Grenzen hinweg. So wollte es das System, nicht zuletzt den globalen Konzernen zuliebe.
Meine Entscheidung, schon fast zwei Jahrzehnte an einem Ort zu bleiben, ist für die Generationen nach mir bereits völlig untypisch. Genauso wie die freiwillige Motivation meines Umzugs, der Popkultur hinterher.
Leute in ihren Zwanzigern und Dreißigern ziehen nicht in erster Linie aus Abenteuerlust in Europa herum, sondern weil die prekäre (das Wort durfte nicht fehlen) Arbeitswelt es so von ihnen verlangt. Das neoliberale Konzept sucht die flexible Arbeitskraft, und alle springen, wie ihnen geheißen, von Job zu Job und Land zu Land, gefolgt von einem Rattenschwanz an Doppelsteuerabkommenformularen, die mir jetzt von der Verwaltung her auch nicht einfacher vorkommen als ein Wahlregister.
Vielleicht kam es dem politischen Establishment einmal sicherer vor, zur Wahrung ihrer Macht bei Wahlen auf die "eigene" Bevölkerung zu zählen. Geerntet hat man mit dieser absurden undemokratischen Asymmetrie aber letztlich den Siegeszug des Rechtspopulismus im europäischen Mainstream.
Wie anders könnte der politische Diskurs in diesem Land wohl aussehen, wenn Leute meiner Herkunft die ihnen zustehende aktive Rolle spielen dürften?
Wenn es knapp drei Millionen zusätzliche Stimmen zu gewinnen gäbe, wäre dann zum Beispiel die Ausbeutung der Einwander_innen auf den Obstplantagen von Kent plötzlich auch ein Wahlkampfthema?
Das sollte ich eigentlich in einem englischen Blog auf Englisch fragen.
Aber es wäre auch wieder zu kurz gedacht, denn auch in Österreich und genauso wie in all den anderen, von kurzsichtigen Nationalinteressen geprägten, politischen Landschaften Europas sitzen reichlich Leute mit genau demselben Problem wie ich: Einer angesichts der fortschreitenden Bigotterie und provinziellen Verblödung rundum allmählich unerträglich werdenden Stimmlosigkeit.