Erstellt am: 11. 10. 2014 - 08:00 Uhr
Bienen im Mund
Was man alles sehen kann in diesem Film!
Eine Fernsehmoderatorin mit weißer Langhaarperücke, eine bizarre Figur, der Monica Bellucci Würde einhaucht.
Ein junges Mädchen, Gelsomina, die älteste von vier Schwestern, die das Zauberkunststück beherrscht, eine Biene aus ihrem Mund kriechen zu lassen. Die Mutter der vier Schwestern, gespielt von der älteren Schwester der Regisseurin. Alba Rohrwacher, die man nie mehr vergisst, wenn man sie einmal in einem Film gesehen hat (sogar in einem ihrer ersten Filme, in dem sie mitgespielt hat, dem unsäglichen "Tage und Wolken", war sie ein Lichtblick). Dass sie eigentlich zu jung ist, um eine Mutter von vier Kindern zu spielen, fällt einem gar nicht richtig auf, da "Land der Wunder" ohnehin nie vorgibt, echt, real und wirklich zu sein. Genau deshalb verströmt der Film so etwas wie Wahrhaftigkeit.

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Alice Rohrwacher nennt ihren Film "ein hausgemachtes politisches Märchen". Und tatsächlich ist diese am italienischen Land angesiedelte Geschichte irgendwie aus der Zeit gefallen. In einem heruntergekommenen Bauernhof lebt eine Familie und hält sich mehr schlecht als recht mit einer Bienenzucht über Wasser. Der Familienvater ist ein deutscher Althippie, der vor Jahren hierher kam und wahrscheinlich gab es irgendwann auch mehr Menschen und so etwas wie eine Kommune. Die einzig Übriggebliebene ist die Deutsche Coco, die stottert, wenn sie Wolfgang die Wahrheit ins Gesicht sagt ("du bräuchtest einen Sklaven. Nicht vier Töchter wie diese"). Der aber tatsächlich fast gar nichts mehr zu melden hat, weil der Traum vom freien Leben nicht aufgeht, wenn man den Traum vom Hippie-Patriarchen nicht aufgeben will.
So wie die Ehefrau und Mutter (um es noch einmal zu sagen: die wunderbare Alba Rohrwacher) ihren Protest offen verkündet, lenkt die älteste Tochter Gelsomina in Stille und herausfordernder Zuneigung die Geschicke am Hof. Sie ist nicht nur die Bienenspezialistin, sie meldet die Familie auch heimlich für einen Fernsehwettbewerb an, in dem es um landwirtschaftliche Wunder gehen soll. Dieser Wettbewerb wird in einer Höhle stattfinden, der Vater wird mit einem Jutekittel als Etrusker verkleidet sein und der Nachbarbauer mit einer Bärenkappe auftreten. Das ist ein gelungener Seitenhieb auf die notorisch erbärmliche und gefährlich mächtige Fernsehkultur Italiens.

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A propos Wahrhaftigkeit.
Man muss, oder viel besser möchte sich diesen Film ein paar Mal anschauen, um in die Tiefe der (auf Film gedrehten!) Bilder einzudringen und die vielen Zwischentöne zu hören: Die Komplizenschaft zwischen den Schwestern und gleichzeitig die Bürde, sich als älteste Tochter gegen einen patriarchalen (also eifersüchtigen) Vater durchzusetzen und erwachsen zu werden (was es bedeutet, das älteste Kind zu sein, war eine der Fragen, die sich Alice Rohrwacher am Anfang des Drehbuchschreibens gestellt hat).
Es geht auch um Landwirtschaft und die Formen von Unabhängigkeit, die damit verbunden sind, beziehungsweise sein können. In diesem Nebenstrang von ökonomischem und marktwirtschaftlichem Druck ist der Film fast tagespolitisch. Doch nichts, was über das Bild, das Schauspiel oder die Montage vermittelt werden kann, wird in den Dialog abgeschoben. Es wird einem nichts erklärt oder gesagt, was man zu denken oder wohin man zu schauen hat.
Im großen Überbau des Films geht es um Zusammenleben und um die engen Vorstellungen von dem, was Familie bedeutet. Als die Eltern einen jugendlichen Straftäter zur Bewährung aufnehmen, sagt ihnen die Bewährungshelferin (Margarethe Tiesel), wie sie innerhalb der Familie miteinander zu sprechen hätten. Einige Momente später meint sie, so sicher nicht. Der Bub bleibt trotzdem und erweitert den ohnehin schon beeindruckenden Schatz an Zauberkunststücken durch sein bühnenreifes Pfeifen. Und irgendwann wird noch ein Kamel in den Familienverband aufgenommen.
Ein seltsamer, wundervoller Film.