Erstellt am: 10. 10. 2014 - 16:42 Uhr
Farageland
So, jetzt hat Großbritannien also auch seinen ersten Abgeordneten einer Rechtsaußenpartei im Unterhaus sitzen, und das, was heutzutage als europäischer Normalzustand durchgeht, ist hergestellt.
"Ist das, wo die Revolution beginnt?", fragt gerade John Humphrys vom Today Programme des BBC-Senders Radio 4, eine von vielen Stimmen in der BBC, die im Verlauf der letzten anderthalb Jahre kräftig mitgeholfen haben, den gar nicht so lustigen Clown Nigel Farage und sein Gefolge populär zu machen. Sie dürfen sich dazu gratulieren.

Robert Rotifer
Erklärung im FFWD: Wenn in Großbritannien einE UnterhausabgeordnetEr zurücktritt oder stirbt, gibt's eine sogenannte "by-election", also eine Mini-Unterhauswahl im betreffenden Wahlkreis. Ersteres ist in Clacton-on-Sea, am schäbigen Ende von Essex passiert, wo der konservative Inhaber des Parlamentssitzes zu den Fruchtkuchen (freie Übersetzung) von UKIP übertrat. Zweiteres in Heywood & Middleton im Nordwesten, Gegend Manchester, wo ein Labour-Abgeordneter starb und eine neue (Liz McInnes) zu seinem Ersatz nominiert wurde. Deswegen also gab es gestern by-elections, und die sollen nun, wenn es nach dem Farage geht, das politische Establishment in seinen Grundfesten erschüttert haben.
Stimmt, das haben wir schon einmal gehört. Im Mai bei den Europawahlen. Aber seit gestern haben UKIP eben nicht nur einen Haufen Europa-, sondern auch einen Unterhausabgeordneten. So wie die Greens. Nur von denen redet hier nach wie vor keineR, jedenfalls nicht in den Medien. Und eine halbwegs gültige Begründung dafür ist ja auch, dass die Greens vielleicht in einer Freakstadt wie Brighton reüssieren können, aber sonst kaum wo. UKIP dagegen schon, denn diese Partei bedroht seit gestern nun ganz unbestreitbar die alteingesessensten Stammpfründe der beiden großen Traditionsparteien.
Die Labour-Mehrheit in Heywood & Middleton, einer ihrer vormals sichersten Hochburgen, schrumpfte gestern nämlich auf popelige 617 Stimmen. Hätte Labour diesen Sitz verloren, hätte das wohl eine Führungsdebatte ausgelöst. Was beim derzeitigen Stand übrigens gar keine schlechte Sache wäre, aber bleiben wir beim Thema:
Revolution hin oder her: Im Unterhaus wird es abgesehen von Liz McInnes erst einmal keine sichtbare Veränderung geben, denn Douglas Carswell, der also in Clacton-on-Sea mit fast 60% der Stimmen sein Ergebnis als konservativer Kandidat von 2010 um rund 7 Prozent übertroffen hat, saß ja bisher schon als Tory auf den grünen Bänken.
Man könnte denken, er habe hoch gegamblet und gewonnen, aber im Gegensatz zu seinem ex-konservativen Kollegen Mark Reckless, der demnächst in Rochester den selben Stunt zu wiederholen plant, ist Carswell kein Opportunist, sondern - zumindest seinem Ruf nach - ein klassischer, entfremdeter Tory-Libertärer.
Als solcher sollte er sich eigentlich früher oder später mit seinem neuen Chef Farage überwerfen, dessen Freigeist sich auf fotogenes Biertrinken, die neoliberale Orthodoxie des Ex-Börsenmaklers und gegen Brüssel gerichtete anti-bürokratische Rhetorik beschränkt, während er den Rest seiner politischen Linie in einem improvisatorischen Stream of Consciousness den Lippen des Volksmundsklischees abliest.
Gestern in einem Interview mit der europäischen Newsweek kam beim semi-arbiträren Kreisen und Klappern seiner Kermitschen Kinnlade zum Beispiel heraus, dass er HIV-positive Einwander_innen an der Grenze abweisen will.
Der Guardian empört sich dann darüber auf der Titelseite, aber das Publikum, das Farage anspricht, liest erstens andere Zeitungen (die, die täglich mit Horrorstories über kriminelle Fremde hetzen) und wird sich zweitens von sowas nicht abhalten lassen. Laut Umfragen stehen die durchschnittlichen UKIP-Wähler_innen mit Ausnahme ihrer Fremdenfeindlichkeit und ihrer Europhobie in fast allen Punkten im Widerspruch zur von ihnen unterstützten Protestpartei:
Sie sind für eine Rückverstaatlichung der Bahngesellschaften und die Bewahrung des staatlichen Gesundheitssystems, UKIP ist für Privatisierung in allen Bereichen und für einen weiteren Rückbau des ohnehin schon dezimierten britischen Arbeitsrechts inklusive einer Abschaffung so wettbewerbsfeindlicher Einrichtungen wie des mit nur drei Monaten bezahlter Karenz ohnehin lachhaften Mutterschutzes. Zwischendurch träumt diese Volksbewegung wider das politische Establishment von der Abschaffung der Steuerprogression mit einer 30prozentigen Flat Tax.

http://is.gd/dKa25i; http://is.gd/T9dkVp
Aber all das ist nur Nebensache, denn UKIPs wahren Verkaufsschlager, die Xenophobie, gewürzt mit ein paar rassistischen Ausfällen, verstehen sie alle, und nur darum geht's eigentlich. Die Gänse stimmen für Weihnachten, solange man ihnen nur verspricht, dass ihnen die wilden Migrantengänse nichts von ihrem Futter wegfressen dürfen.
Kommt einem aus Österreich genauso bekannt vor wie die Hilflosigkeit der Labour Party, die das xenophob paranoide Potenzial ihrer Kernwähler_innenschichten unterschätzt und sich immer noch einzureden scheint, dass UKIP als Rechtspartei vor allem den Tories schaden wird. Anstatt sich zum Beispiel zu fragen, warum das völlig verarmte und verwahrloste Clacton, das im 20. Jahrhundert einmal ein Labour-Sitz war, in einer Zeit, wo die sozialen Unterschiede sich dramatisch zuspitzen, die Reallöhne für alle außer die oberen 10% empfindlich sinken, und die Lebenshaltungskosten steigen, für ihre Partei völlig außer Reichweite liegen sollte.
Das letzte glamouröse Ereignis, an das Clacton sich erinnern kann, ist, dass einander dort vor 50 Jahren Mods und Rocker ein paar auf die Mütze gaben. Heute ist dieser Ort komplett überaltert, und wenn einem jetzt die Demoskop_innen erzählen, dass der UKIP-Sieg in etwa dem Schnitt jener Altersgruppe entspreche, dann sieht die Sache für Labour und Tories eigentlich noch ein Stückchen schlimmer aus. Schließlich sind die die Einzigen, die hierzulande, so wie sonst in Europa auch, verlässlich wählen gehen.
Eine kleine Vorhersage meinerseits, längst nicht so gewagt, wie sie klingt: Falls Nigel Farage nicht über irgendwas Unvorhergesehenes stolpert, gewinnt er nächsten Frühling bei den Unterhauswahlen nach einem von fremdenfeindlicher Hetze geprägten, schmutzigen Wahlkampf der UKIP einige Sitze, es gibt wieder keine entscheidende Parlamentsmehrheit, und es wird egal sein, ob Labour die Tories schlägt oder nicht. Denn nachdem die LibDems großteils aufgerieben werden (in Haywood & Middleton erreichten sie bei einem Minus von 17 Prozent nur 5 Prozent, in Clacton bei einem Minus von über 11 Prozent gar nur 1,1 Prozent der Stimmen), werden nur die Tories und UKIP koalieren können. David Cameron ist fraglos zynisch genug, sowas abzuziehen. Dann hat Großbritannien eine rechts-rechte Regierung, ein EU-Austritt scheint unvermeidlich, und die größten Deppen sind die, glauben, dass sie mit ihrer Stimme für UKIP dem Establishment eins auswischen.
Auch das kommt einem bekannt vor. Man sagt ja immer, was in Großbritannien politisch passiert (Thatcherismus etc.) kommt mit Verzögerung irgendwann auf dem Kontinent an. Manchmal geht's auch umgekehrt. Dass ausgerechnet die Europhoben dabei die treibende Kraft sind, nennt man dann Ironie.