Erstellt am: 19. 9. 2014 - 10:07 Uhr
Sie reden von Veränderung
Obwohl alles gleich bleibt, heißt es, wird sich alles verändern. David Cameron hat gesprochen, und unterhalb seiner Plattitüden und der Gratulationen an sich selbst („Es ist richtig, die großen Fragen frontal anzugehen“, sprich: Ich werde auch eine EU-Volksabstimmung abhalten, während Labour zaudert) kam auch die Ankündigung, er würde den (zutiefst konservativen) Ex-Außenminister William Hague beauftragen, eine Kommission für konstitutionelle Reform zu leiten.
Cameron sprach von einem „Settlement“ für England. Das war ein Signal in Richtung seiner aufgebrachten Hinterbänkler_innen, denen er die versprochenen Konzessionen an Schottland nur verkaufen könnte, wenn er gleichzeitig auch was für England zu bieten hat.
Alistair Darling, der Ex-Labour-Schatzkanzler, der die Nein-Kampagne geführt hat, wird jetzt vermutlich eine größere Rolle in der Opposition spielen (als Schattenschatzkanzler, vielleicht sogar mehr). Er zollte in seiner Siegesrede Donald Dewar, dem 2000 verstorbenen ersten First Minister Schottlands Tribut, der Ende der Neunziger die „lange Reise der Devolution“ begonnen habe.

Reuters/Russell Cheyne
Was Tony Blairs Regierung damals nicht einmal anriss, ist das, was man heute Morgen überall die „English Question“ nennt: Die Forderung nach einer föderalen Struktur, in der es nicht nur ein schottisches und walisisches, sondern auch ein englisches Parlament, oder bundeslandartige Verwaltungen für englische Regionen geben würde.
Das ist auch, was Nigel Farage von UKIP – in Brüssel ein Separatist, zuhause ein Föderalist – heute fordert, während Douglas Alexander von der Labour Party im Interview mit der BBC bereits davon sprach, dass man solche Dinge nicht überstürzen sollte.
Zur Erklärung: Als Blair Ende der 1990er sein Modell der Devolution durchsetzte, kam England darin nicht vor, weil London sich sowieso als das Zentrum der Macht sieht, mit den anderen britischen Nationen in der Rolle der Quasi-Kolonien.
Dazu kommt noch eine nicht unberechtigte Scheu vor dem unter der Oberfläche brodelnden, englischen Nationalismus, der in seiner Mentalität der post-imperialen Kränkung gern ein hässliches Gesicht zeigt. In der Labour Party hat dieser englische Nationalismus kein natürliches Zuhause, die parlamentarische Opposition wird in der „English Question“ also vermutlich eher bremsen.
Und wenn einmal die Debatten darüber anfangen, was ein englisches Regionalparlament kosten würde, wird man von „noch mehr Politikern“ sprechen und „noch mehr Verwaltung“, und schon klingt die Sache nicht mehr so gut. Vielleicht wird es als Kompromiss englische Sitzungen für englische Fragen im Unterhaus geben, an denen schottische Abgeordnete nicht teilnehmen (was bedeutet, dass Labour an Einfluss im Unterhaus verliert), mehr sollte man nicht erwarten.
Aber eigentlich sprachen wir ja von Schottland, oder? Es heißt, es wird sich alles verändern, doch die Gegenkräfte formieren sich bereits. Die neue Ermächtigung Schottlands („Devo Max“, die erweiterten Rechte zur wirtschaftlichen und politischen Selbstbestimmung) wird unter den Konservativen schwer durchzusetzen sein, und Cameron hat auch kein wirkliches Interesse daran.

Reuters/Paul Hackett
Der Ausgang der Abstimmung mit zehn Prozent Abstand zwischen Nein und Ja ist so klar, dass in Wahrheit auch kein öffentlicher Druck besteht, denn da oben im Norden gibt es für ihn ohnehin keine Unterhaussitze zu verlieren. Er wird Gordon Brown wieder zurück ins Exil schicken und die großen Worte mit ihm.
Das ist die tatsächliche Niederlage für Schottland. Die Drohung der Abspaltung wird ab jetzt eine leere sein. Für lange, lange Zeit führt hier kein Weg mehr zurück. Wäre diese Volksabstimmung knapper ausgegangen, dann wäre dieses Stückchen Macht gegenüber London vielleicht erhalten geblieben. Vor allem aber wäre der Enthusiasmus der jungen und der vom System entfremdeten Wähler_innen, die zwischenzeitlich ihre politische Desillusionierung abgelegt und gestern zum ersten Mal ihre Stimme abgegeben haben, nicht derart resigniert verpufft, wie es jetzt zu erwarten ist.
Die Angst ihrer Eltern und Großeltern bzw. der wohlhabenden Teile Schottlands vor der Entwertung der Pensionsfonds, vor sinkenden Börsenkursen, vor der Aufgabe der Nuklearmacht, vor der Veränderung an sich, hat gewonnen, und die Idee, alles neu erfinden zu können (und das war der gefühlte Hauptantrieb für Yes, nicht der Nationalismus und schon gar nicht die Liebe zu Alex Salmond) hat klar verloren.
Was die Ergebnisse allerdings auch offenlegen, sind die sozialen Widersprüche innerhalb Schottlands: Das teils schwer verarmte Glasgow wählte entschieden mit Ja, das reichere Edinburgh ebenso entschieden Nein. Dundee Ja, Aberdeen Nein.
Wie Schottland mit den Gräben fertig wird, die diese Abstimmung unter ihnen aufgerissen hat, ist von England aus nicht wirklich abzuschätzen. Aber ich lese aus den Stimmen der Schotten in meinen Timelines eine tiefe Enttäuschung heraus, die ich als Mensch jenseits der vierzig nur allzu genau wiedererkennen kann.
Zu genau erinnere ich mich an die Stimmung in London 1987, diese absolute Sicherheit, dass das Volk Maggie Thatcher nach ihren blutigen Schlachten gegen die Minenarbeiter verabschieden würde. Oder 1992, als niemand sich vorstellen konnte, dass der hoffnungslos uncharismatische John Major sich mit seiner tief zerstrittenen Tory Party erfolgreich an die Macht klammern können würde.
Ich glaube ja nicht, dass die Devo-Max-Versprechen wirklich die Abstimmung entschieden haben. Ich schätze eher, da ist wohl schon was dran am Klischee des zutiefst antirevolutionären Instinkts der Briten, ihrer Neigung, sich lieber abzuwenden, wenn es irgendwo leidenschaftlich und radikal zu werden droht. Hinter jeder skandierenden Menge stehen unbewegte Zeilen von Reihenhäusern, und hinter deren dunklen Fenstern sitzt die schweigende Mehrheit, der das alles schon wieder einmal entschieden zu weit geht.

Reuters/Russell Cheyne
Ihre Tragödie ist, dass sie in ihrer stillen Passivität die Veränderung nicht aufhalten können. Während sie dafür stimmten, dass alles beim Alten bleibt, wurde das Land deindustrialisiert und der heute triumphierende Finanzmarkt zur dominanten Wirtschaftskraft in Großbritannien.
Während Krankenschwestern als Galionsfiguren für den Weiterbestand des Nationalen Gesundheitssystems auf der Nein-Seite in die gestrige Schlacht geschickt wurden, geht dessen Verkauf an private Versorger weiter. Das beruhigende blaue NHS-Logo wird aber bleiben, weil vertraute Marken viel wert sind.
Insofern stimmt es schon: Die Dinge werden sich ändern, so wie sie das immer tun. Allerdings weder nach den Vorstellungen der besiegten Yes-Bewegung, noch auf jene Art, wie es Brown und Darling und auch Cameron in ihren leidenschaftlichen Appellen in den Tagen vor der Abstimmung behaupteten.
Ab heute beginnt ernsthaft der Unterhauswahlkampf, und an Stelle der Labour Party würde ich mich (siehe meinen gestrigen Blog) einmal nicht lange mit dem Jubeln aufhalten.