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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

8. 9. 2014 - 17:47

Ängste einer Königin

Erstmals liegt nicht nur in der subjektiven Wahrnehmung, sondern auch in einer Umfrage das Ja-Votum zur schottischen Unabhängigkeit voran. London ist in Panik. Zu spät.

Langsam erwacht England aus dem Dämmerzustand seiner Arroganz. Eine Meinungsumfrage des Instituts YouGov am Wochenende ergab, dass eine hauchdünne Mehrheit der Bevölkerung Schottlands droht, für das Verlassen des Vereinten Königreichs zu stimmen.

Bahnfahrerin liest Daily Mail kit der Überschrift "Queen's Fear of the Break-Up of Britain"

Robert Rotifer

Wollen wir es einmal noch ausbuchstabieren, um uns der ganzen, sprichwörtlich weltverändernden Tragweite dessen, was da vor sich geht, bewusst zu werden:

Was von Premier David Cameron als kalkulierbarer politischer Gamble gedacht war, hat sich zu einer Katastrophe mit verfassungstechnisch unabsehbaren Konsequenzen ausgewachsen. Ausgehend davon, dass die Schott_innen mit überwältigender Mehrheit ihre großbritannische Identität bestätigen würden, hatte er sich ausgerechnet, beflügelt vom Feenstaub einer gewonnenen Referendumskampagne in die nächstjährigen Unterhauswahlen ziehen zu können. Voll selbstgefälligem Hohn hatte sein Schatzkanzler George Osborne die nördlichen Nachbarn wissen lassen, dass sie sich das britische Pfund künftig aufmalen könnten, falls sie renitent sein und mit "Ja" stimmen sollten.

Jetzt hat ein panischer Osborne diese Drohung an Schottland gleichzeitig bestärkt und als Zuckerbrot einen hastig zusammengestellten Plan für mehr budgetäre schottische Selbstbestimmung im Falle eines Nein-Votums in Aussicht gestellt, nicht mehr als ein glorifiziertes Versprechen in der Not, denn die nächsten zehn Tage lassen keine Zeit mehr für Gesetzesentwürfe.

Er und sein Chef, der britische Premier, drohen als das tolpatschige Spekulantenduo in die Geschichte einzugehen, das die britische Union verspielte. Das ist die Grundlage des Union Jack, die Basis des britischen Selbstverständnis, von den Bärenmützenwächtern bis zum tiefsten inneren Wir-und-der-Rest-der-Welt-Gefühl des britischen Inseldaseins.

Aber wer sind schon David Cameron und George Osborne? Die Grundlage für die London-feindlichen Gefühle in Schottland, so wie allen in dieser Geschichte mangels lokaler Verwaltung bisher stimmlos gebliebenen Regionen nördlich der Home Counties ist wesentlich profunder als das, was ein paar Patrizier ohne Verbindung zur realen Welt in drei, vier Jahren am Ruder anstellen hätten können.

City-Türme aus dem Zugfenster

Robert Rotifer

Während ich das schreibe, sehe ich sie durchs Zugfenster, die Türme der Londoner City und der Canary Wharf, deren Interessen seit der monetaristischen Revolution der 1980er die Zugrichtung der britischen Wirtschaftspolitik bestimmten. Die Demütigung des deindustrialisierten Nordens durch die vom Rest des Landes entkoppelte Finanzmacht der Metropole ist von hier aus schwer vorstellbar. Egal, wie viele Schotten selbst darin führend verstrickt waren (nicht zuletzt der authentisch aus Glasgow stammende Chef Fred "the Shred" Goodwin), von Schottland aus sah sogar der Meltdown der Royal Bank of Scotland wie die von Londoner Halunken ausgeheckte Vernichtung eines nationalen Symbols aus.

*Dass Labour (mit einer großen Mehrheit von 40 Unterhausabgeordneten versus nur 6 SNP-Abgeordneten im Parlament von Westminster) sich dazu hinreißen ließ, Seite an Seite mit den Tories, die in Schottland einen einzigen Unterhausabgeordneten stellen, in die Nein-Kampagne zu gehen, war nicht nur ein verheerender taktischer Fehler, sondern auch eine vielsagende Illustration der desaströsen Fehleinschätzung der Stimmung nördlich des Hadrianswalls seitens der Londoner Führung.

Weder Cameron, noch die um ihre Siegeschancen in künftigen rumpfbritannischen Unterhauswahlen bangende Labour Party, noch die in dieser essentiellen Debatte völlig profillosen Libdems können das wirklich nachvollziehen, und genauso wenig können das Schotten, die nach London gingen, um dort Karriere zu machen - siehe insbesondere Gordon Brown und seinen Ex-Schatzkanzler Alistair Darling, der 2008 mit dem Geld aller Brit_innen die City vor dem Untergang rettete und jetzt die parteienübergreifende*, dementsprechend farblose "Better Together"-Kampagne anführt.

Metro-Zeitung mit Überschrift "No, we will not share the Pound"

robert Rotifer

Da kann die "No"-Fraktion gern Paul Krugman ins Feld schicken, sämtliche Verweise auf die Wirtschaftsrisiken eines Alleingangs fallen flach, da wir bereits an dem Punkt angelangt sind, wo Ratschläge von außen in Schottland nur mehr als Anmaßung ankommen.

Wie hier zu lesen und in meiner letzten Heartbeat-Schottland-Spezialsendung vor zwei Wochen zu hören war, ist faktisch die gesamte schottische Pop- und Kunst-Szene im Pro-Unabhängigkeitslager zu finden. Aber selbst diese Stimmen sind letztendlich nur Begleitmusik.

Die Wahrheit ist: Falls Schottland in zehn Tagen wirklich "Yes" stimmt, ist das nicht mehr als die offizielle Erklärung einer Scheidung, die de facto schon lange vollzogen wurde, mit London in der Buh-Rolle der schuldigen Partei: Vernachlässigung, Entfremdung, wie immer man den Grund nennen will, die Haustürschlüssel passen bereits nicht mehr, selbst wenn es am 18. doch noch ein knappes "No" werden sollte.