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Ali Cem Deniz

Das Alltagsmikroskop

11. 8. 2014 - 13:58

Dinge, die man über die Türkei-Wahlen wissen sollte

Was das Ergebnis der Wahlen über die türkische Gesellschaft verrät.

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Am Sonntag hat die Türkei zum ersten Mal direkt den Präsidenten gewählt. Die Wahl ist von historischer Bedeutung, die Spannung hielt sich allerdings in Grenzen.

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Erdoğan hat mal wieder gewonnen. Warum das so ist und was sein Gewinn über die türkische Gesellschaft sagt:

1. Erdoğan bekommt nicht nur die Stimmen der Konservativen

Eine beliebte Erklärung für den Erfolg Erdoğans ist, dass die Mehrheit der türkischen Gesellschaft konservativ und schlecht gebildet ist und deswegen Erdoğan unterstützt.

Die Wahlergebnisse zeigen aber ein anderes Bild. Der Anteil von Akademikern unter den AKP-Wählern ist gleich hoch wie bei der größten Oppositionspartei CHP. Außerdem gibt es weit konservativere Parteien, die noch stärker den politischen Islam vertreten und dennoch kaum Stimmen bekommen. Erdoğans Erfolg ist mehr eine Mischung aus wirtschaftlichen Erfolgen, politischen Reformen und einer großen Skepsis in der Gesellschaft gegenüber der Opposition.

Recep Tayyip Erdogan

APA/EPA/TOLGA BOZOGLU

2. Die Opposition ist im Koma

Als Erdoğan Anfang der 90er Jahre als Bürgermeisterkandidat in Istanbul die politische Bühne betrat, versuchten viele damalige Regierungspolitiker, die heute in der Opposition sitzen, zu beruhigen: "Der kann nicht mal Dorfvorsteher werden" war ein beliebter Slogan. Heute erklimmt Erdoğan das höchste Amt im Staat, während der Mainstream der Opposition in den 90ern hängen geblieben ist.

Auch gestern sprach der Dachkandidat der großen Oppositionsparteien von einem großen Erfolg, obwohl die Koalition von 13 Parteien weniger als 40 Prozent der Stimmen bekam. Dabei ist es höchste Zeit für die Opposition Selbstkritik zu betreiben, ansonsten wird sie sich nicht erneuern können.

3. Keine Angst, eine neue Opposition kommt

Die geringe Beteiligung zeigt aber auch, dass es viele Erdoğan-Gegner gibt, die mit der Opposition nicht zufrieden sind. Vor allem viele junge Menschen sind enttäuscht von den politischen Perspektiven und fühlen sich im Stich gelassen. Das ist ein Problem, wäre aber auch ein idealer Moment für die Entstehung einer ernsten Konkurrenz zur AKP, die mehr Druck auf die Regierung ausüben und so den demokratischen Wandel in der Türkei gestalteten kann.

Selahattin Demirtaş, der Kandidat der liberalen pro-kurdischen HDP, wurde zwar Dritter, betonte aber auch, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sie die größte Oppositionspartei bilden werden. Eine Opposition zur AKP, die der Gesellschaft mehr bieten kann als Erdoğan-Kritik, wäre ein Fortschritt für die türkische Demokratie.

4. Die türkische Gesellschaft wird pluralistischer

Das Ergebnis des Dachkandidaten zeigt, dass die ultra-nationalistische MHP, die aktuell die drittgrößte Partei im Parlament ist, weiter in die Bedeutungslosigkeit abdriftet. Denn ein Kandidat der kemalistisch-nationalistischen CHP hätte auch allein 30 Prozent bekommen.
In Zusammenarbeit mit der MHP und anderen rechten Parteien kam man nur auf ein Plus von 9 Prozent. Das wird für die MHP nicht genug sein, um die Hürde bei den nächsten Parlamentswahlen zu überwinden.

Rassistische und ultra-nationalistische Positionen sind in der Türkei nicht mehr salonfähig und bringen keine Stimmen mehr.

Wahlzettel

APA/EPA/SEDAT SUNA

5. Die Polarisierung ist weiterhin eine Gefahr

Aber auch in einer pluralistischeren Gesellschaft entstehen neue Polarisierungen. Die nächsten Wahlen finden schon in 10 Monaten statt und es steht wieder viel auf dem Spiel: die AKP will eine Zweidrittelmehrheit um eine neue Verfassung durchzubringen, und die Opposition will das auf jeden Fall verhindern.

Die Parteien werden sich also schon bald in den nächsten Wahlkampf stürzen. Dabei müssen sie allerdings vorsichtig sein, denn die türkische Gesellschaft ist bereits jetzt viel zu stark politisiert. Politiker und auch Medien müssen eine neue Rhetorik entwickeln, die sich nicht nur auf die Dämoniserung der politischen Gegner reduziert. Bisher haben Erdoğan und auch Oppositionspolitiker so ihre Wähler mobilisiert, doch immer mehr Menschen sind genervt von diesem Ton und wünschen sich eine Politik, die sich mehr auf Inhalte konzentriert.