Erstellt am: 19. 6. 2014 - 19:43 Uhr
Truly British ohne Ball
Nach meiner manischen Bloggerei rund um die EU-Wahlen auf blauen und grauen Seiten hab ich hier sehr lange nichts von mir gegeben. Unter anderem, weil es das von Violetta Parisini und Wolfgang Schlögl kuratierte Popfest-Programm zu schreiben und nachher einiges an angesammelten Arbeiten nachzuholen gab. Wer einmal reinliest, wird erkennen, dass zumindest ersteres Spaß gemacht hat.
*Die sogenannte Cool Britannia-Zeit nach Tony Blairs Wahlsieg 1997, einmal Eurovisions-Sieg, die militärische Intervention am Balkan, die apokalyptische Stimmung der Maul- und Klauenseuche 2001 mit zehn Millionen getöteten Tieren, die britische Reaktion auf 9/11 („Wir sind alle New Yorker!“ - nein, seid ihr nicht), der Afghanistan- und der Irak-Krieg und deren endlose Nachwehen (wie endlos wird jetzt erst klar, danke Tony), vier World Cups, viermal EM, eine gewonnene Rugby-Weltmeisterschaft, ein goldenes und ein diamantenes Krönungsjubiläum, zwei königliche Hochzeiten, ein Prinzessinnen-Todesfall, ein königliches Baby, ein britischer Wimbledon-Sieg, und heuer das Zusammenfallen runder Kriegsjubiläen – 100 Jahre erster Weltkrieg, 70 Jahre D-Day.
Die damit verbundene Abschottung, den Kopf tief in diversen Soundclouds, war aber auch eine gute Ausrede für mich, zu verdrängen, was sonst so rund um mich ablief in meiner Wahlheimat. Man weiß ja, worauf man gefasst sein sollte, wenn man in eine „große“ Nation zieht, und ich hab in den bisherigen 17 Jahren genügend Perioden nationaler Euphorie und Hysterie miterlebt* und mir eine dementsprechend dicke Haut zugelegt. Aber so unangenehmen wie derzeit war's noch nie.
In den letzten Wochen hat sich die britische Seele, eingeklemmt zwischen der zunehmenden Panik vor der Abstimmung zur schottischen Unabhängigkeit und erwähnter Europa-Wahl, deren Ergebnis man partout nicht verstehen will, weil man alle Kandidaten außer den britischen vorher wie nachher ignoriert hat (man spricht unübersetzt vom „Spitzenkandidaten“-System und kichert über das komische Wort, als habe man noch nie von einem „top candidate“ gehört) in eine nationale Verunsicherung akut neurotischer Ausmaße hineingesteigert.
Dazu kam noch eine Debatte über Schulen in Birmingham, die laut Unterrichtsminister Michael Gove als „trojanisches Pferd“ den Islamismus predigten. Eine Bedrohung, der man nur entgegenwirken könne, indem man alle Schüler_innen in „britischen Werten“ unterrichtet. Die da wären: „Religiöse Toleranz und eine entschlossene Gegnerschaft zur Geschlechtertrennung“ (sagte der Unterrichtsminister des Staates, dessen Oberhaupt auch jenes seiner Kirche ist und das – neben Irland – geschätztermaßen mehr geschlechtergetrennte Schulen führt als irgendein anderes Land in Europa)
David Cameron, der den manischen Gove längst als Rivalen sieht, setzte sich da drauf und umriss die Kardinaltugenden des Britischseins in einer Cover-Story für die Mail on Sunday als „Toleranz, Demokratie und Redefreiheit.“ Einer postwendend diese Woche erschienenen Meinungsumfrage zufolge findet eine Mehrheit der befragten Brit_innen, dass man in ihrem Land geboren sein müsse, um sich „truly British“ zu nennen.

Robert Rotifer
So oder so kann ich ja gut damit leben, schließlich fühle ich mich selbst auch nach 17 Jahren ganz sicher nicht „truly British“ (war ich je „truly“ irgendwas?). Andererseits hätte mir gedacht, gerade die zitierte britische Toleranz sollte mit der Herausforderung, nicht wahrhaft britische Menschen unter sich zu wissen, ganz locker fertig werden. Aber sie ist eben bloß Toleranz, nicht Akzeptanz. Man wird geduldet, viel ist das nicht.
Der Fairness halber muss ich allerdings noch was erwähnen, das dieser Tendenz zum nationalen Eifer auf auffälligste Weise entgegenläuft. Wie manchen schon aufgefallen sein wird, ist ja gerade Fußball-WM. Ein Ereignis, das üblicherweise Fahnenstolz und wilde Weltbeherrschungsfantasien hervorruft. Großes Sentiment. Über Jahrzehnte transportierte gemeinschaftliche Gefühle.
Aber zu meiner Überraschung schien am letzten Samstag, Englands erstem Matchtag immerhin, rein gar nichts davon in der Luft zu liegen. Nichts zu spüren von den üblichen, erwartungsvollen, nervösen Vibes, sogar die immergleiche Bilder-Montage schon Tage vor dem Match (nur der Soundtrack und die Grafik ändert sich alle zwei Jahre, und eine Pointe kommt am Schluss dazu: Der Ball war vor der Linie! Gascoigne weint! Beckham weint! Der Ball war hinter der Linie!) kam einem irgendwie pro forma vor. Und draußen auf der Straße kaum mehr als ein geschmücktes Pub hier, eine halbherzig dekorierte Fish & Chips-Bude da, ein paar Autos mit Wimpeln drauf, alles sehr gedämpft.
Wie passte das zusammen? Während rundherum der vulgärpatriotische Geist des John Bull wütet und mir selbst auf Radio 4 seit zwei Wochen täglich Admiral West vom Stolz der Britischen Marine erzählt, scheint der große Auftritt des englischen Fußball auf dem Weltschlachtfeld niemand sonderlich zu kratzen.
Vielleicht, dachte ich, hab ich mich einfach nicht richtig eingeklinkt. Mein Freund_innenkreis hat sich schließlich in den letzten Jahren zunehmend vom Fußball entfernt (auch bezeichnend eigentlich, das war einmal anders), und ich habe vor dieser WM absolut niemand getroffen, der sich für Englands Abschneiden annähernd interessiert oder das Thema auch nur erwähnt hätte.
Ich setzte mich also am Samstag um elf Uhr abends vor den Laptop (Fernseher funktioniert schon eine Weile nicht mehr) und spürte immer noch nichts.
Ich wusste, ich war nicht alleine, als selbst BBC-Moderator und Ex-Fußballheld Gary Lineker mit folgenden Worten aus dem Studio ans Stadion übergab: „Remember expectations are low, so there's no need to get nervous.“

Robert Rotifer
Das Produkt, das sich mit dieser Anpreisung verkaufen lässt, muss erst erfunden werden.
Die Ironie ist, dass dies, wie Blumenau hier beschrieben hat, nun wirklich kein schlechtes Spiel war. Dass ich mittendrin einschlief, lag einzig am guten aber billigen Chianti, den man neuerdings in englischen Supermärkten findet.

Robert Rotifer
Als ich dann Tags darauf den fünfzehnjährigen Sohn von einer Übernachts-Zelt-Geburtstags-Party abholte, trug nur einer der Schulfreunde ein Fußball-Trikot. Ein circa acht Jahre altes italienisches mit dem Namen „Totti“ hinten drauf. Er habe, sagte er auf meine Nachfrage, die „correct choice“ getroffen.
Wie truly British ist das jetzt? Und nein, Mr Farage, der ist nicht einmal ein Migrantenkind.
Woran liegt es, fragte ich mich, wenn Teenager_innen offenbar keine emotionale Bindung mehr zu einem Nationalteam aufbauen wollen? Vielleicht daran, dass man als Konsument_in des Produkts Premier League in anderer Länder Trikots mehr vertraute Gesichter sieht als im „eigenen“ Nationalteam (jeweils gekrönt von der globalisierten Fußballerfrisur irgendwo zwischen Arctic Monkeys und Hitlerjugend - "Skinfade", sagt mein Friseur, hieße das im Prinzip)?
Schließlich ist der englische Club-Fußball eine Welt, in der fast niemand mehr „truly British“ ist, wo es im Gegenteil zur politischen Rhetorik des Alltags nicht erstrebenswert, sondern ein existenzielles Problem ist, nur in der englischen Liga und nicht in Europa mitzuspielen (siehe Man U). Ein engstirniger Rückzug auf britische Werte bedeutet da ganz unausweichlich den Bankrott.
Auch fremde Akzente tauchen sonst im zusehends verblödeten britischen Nachrichtenfernsehen der UKIP-Ära eigentlich nur mehr auf, um als Bösewichte, Dümmlinge oder weltfremde Bürokrat_innen vorgeführt zu werden.
Im Fußball-WM-Studio dagegen sitzen Clarence Seedorf und Thierry Henry neben Alan Shearer und Gary Lineker, um deren Horizonte des britischen Spielverständnis mit internationalem Flair und Wissen zu erweitern.
Nun will ich damit kein idyllisches Bild von der englischen Fußball-Wahrnehmung als musterhaftes Produkt einer neuen europäischen oder gar globalen Mobilität zeichnen, die irgendwann notwendigerweise die alten Nationalismen aufheben würde.
Ganz im Gegenteil: Starfußballer in Großbritannien sind wohl ein klassisches Beispiel dafür, wie diese Mobilität nur zum persönlichen Vorteil einer globalen Elite funktioniert, die sich in einer vom Leben der Mehrheit völlig entfremdeten, entsolidarisierten Arbeitswelt bewegt.
Als Identifikationsfiguren repräsentieren sie, wenn überhaupt, nur eine individuelle Agenda mit vorübergehend am Transfermarkt erkaufter Loyalität. An jene Darsteller aus der (zweiten Reihe der) Premiership, die zufällig in England geboren sind, die Vorstellung eines höheren Kollektivgeists zu knüpfen, erscheint da ziemlich weit hergeholt. Wer soll daran glauben?

Robert Rotifer
Sicher, falls die heute Abend was gewinnen und am Ende noch in ihrer Gruppe vorankommen, werden die Wimpel wieder aus den Fenstern wuchern so wie früher einmal. Aber wenn nichts draus wird, spielt's auch keine große Rolle, und man schaut sich stattdessen eben die Stars der Premier League an, egal, für welches Fähnchen die da spielen.
Auch das hab ich so hier noch nie erlebt. Komische Zeiten.