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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

3. 4. 2014 - 11:36

Ziggy und der Mauerfall

Wie die arbiträre Kollision von Vintage- und Playlist-Zeitalter eine völlig neue Vergangenheit erschafft. Demonstriert anhand des kleinstmöglichen statistischen Samples.

Ich gebe ja den vielen unter Kopfhörern verbrachten Stunden die Schuld an meiner Unfähigkeit, Gespräche in meiner Umgebung auszublenden. Es ist eben nicht meine Indiskretion, sondern Symptom meines verlorenen räumlichen Gehörs. Sooo neugierig bin ich schließlich auch wieder nicht.

Gelegentlich mutiere ich jedenfalls zu der Sorte Arschloch, das mit abwesendem Blick am Tisch sitzt, weil es scheinbar lieber der Konversation nebenan als der mit der eigenen Gesellschaft folgt.

So wie neulich: Am Nebentisch ein Pärchen in seinen frühen Zwanzigern, er ganz offensichtlich vertieft in die verbale Balz, sie geschmeichelt, aber noch nicht hinreichend überzeugt.

Er war gerade dabei, den klassischen Fehler der überzogenen Selbst-Promotion zu begehen, erzählte von der Band, in der er Bass spielt und von allen derzeitigen und vormaligen Bandkolleg_innen, so als stünde er mit Tränen in den Augen und Statuettchen in der Faust auf der Bühne einer Preisverleihung.

"Soundso ist ein derart inspirierender Gitarrist. Er ist einfach unglaublich, erstaunlich, was für ein Talent. Ich verdanke ihm soviel. Ohne ihn wäre ich nicht, wo ich jetzt bin." Nämlich im Oberstock eines Lokals namens "Brunch" auf der Canterbury High Street.

Wenn man einmal seiner Ex-Band, seinem Agenten und seinem Manager gedankt hat, ist die nächste Stufe als Großzügigkeit getarnter Selbstbeweihräucherung bekanntlich die umfangreiche Danksagung an sämtliche musikalische Inspirationen, die einem den Lebensweg geebnet haben, bis hin zu diesem Sitzplatz, gegenüber dieser begehrenswerten Frau, in diesem Lokal, an einer zum Tisch umfunktionierten Kabelrolle.

Diesem Gesetz folgend rezitiert unser inspirierter Bassist nun die komplette Liste aller wesentlichsten Alben der Welt, die sich auf seiner definitiven, essentiellen Spotify-Playlist vereinen, wobei das Werk von David Bowie besondere Hervorhebung verdient: "Was mich fasziniert", sagt er, "ist dass Bowie Ende der Achtziger Jahre, also am Ende des Kalten Kriegs, in 'Ziggy Stardust' das Gefühl der Zeit auf den Punkt brachte. Die Ungewissheit, ob die Welt morgen weitergehen wird."

Genau, ich erinnere mich gut. Der Mauerfall brachte die große Angst damals, wenngleich eher in der SED-Zentrale als im kahlen Ytong-Bunker, den David Bowie zu jener Zeit mit seiner Band Tin Machine bewohnte (so klangen jedenfalls ihre Platten).

Da wäre übrigens ein Teil von Bowies Vergangenheit, der in der großen V&A-Ausstellung zu seinem Lebenswerk voriges Jahr nicht so richtig zur Geltung kam - warum wohl? Schließlich fällt doch, wie wir gerade gehört haben, nebst einer ambitionierten Version von Working Class Hero immerhin "Ziggy Stardust" genau in diese goldene Schaffensperiode. Die wilden androgynen Endachtziger eben, Helmut Kohl und der Glam Rock. Es sei denn, da verbirgt sich ein chronologischer Bug in der Playlist meines Nebentischnachbarn.

Möglicherweise fragt sich das die ihm Gegenübersitzende ja auch, jedenfalls folgen auf den pop-geschichtlichen Abriss des Inspirierten erst ein paar Sekunden skeptischen Schweigens.
Dann leuchten ihre Augen auf, und sie sagt: "Hast du schon einmal von Pete Doherty gehört?"

Ich muss zugeben, da ist mir glatt der Löffel ins Gulyas (Eintopf des Tages, eher einem Chili gleichend) gefallen.
"Sicher", sagte der inspirierte Bassist, "den hab ich auch auf Spotify. Großartig."

Das Ausbleiben weiterer Kommentare legt die Vermutung nahe, dass dieser Aspekt der Pop-Allgemeinbildung von unserem Helden weniger eingehend bereist wurde als die Laufbahn David Bowies im zeitgeschichtlichen Zusammenhang.

Warum aber, wollen Sie wissen, fiel mein Löffel? Und warum bin ich hier entgegen der Gepflogenheiten des Senders per Sie? Die Antwort auf beide Fragen ist praktischerweise dieselbe:

Weil die schiere Möglichkeit, dass diesen zwei Leuten der Name Pete Doherty nicht bekannt sein könnte, mir schlagartig bewusst machte, wie viel Zeit da schon wieder einmal vergangen war. Ja doch, seit wir uns alle fragten, was die jungen Leute eigentlich an den Libertines finden, sind bereits wieder gut ein Dutzend Jahre an uns vorbei gezischt.

Der inspirierte Bassist war damals wohl erst acht oder neun Jahre alt, würde mich also, spräche er deutsch, sicher siezen, was wiederum meinem Respektverständnis zufolge nach Gegenseitigkeit verlangt.
So oder so sollte die Nennung von Dohertys Namen in ihm genau jene Sorte diffuser aber tiefsitzender, emotionsgeladener Kindheitserinnerungen auslösen, mit der meine Generation bzw. die zwei, drei Generationen davor nun schon seit Jahrzehnten das kollektive Pop-Gedächtnis territorial markieren.

Doch da kam wie gesagt gar nichts.

Ich sollte natürlich keine glaubhaft allgemeingültigen Behauptungen aus diesem kleinstmöglichen aller statistischen Samples extrahieren, tue es aber trotzdem:

Die verführerischste Schlussfolgerung wäre, mit altvorderer Selbstgefälligkeit die aus dem Streaming-Konsum erwachsene Geschichtslosigkeit zu bejammern. Die alte Leier, dass die jungen Leute heutzutage kein Verhältnis mehr zu der Musik haben, mit der sie sich völlig beliebig vollstopfen können.

Andererseits kann ich mich dafür zu genau daran erinnern, wie es war, als ich mich als Teenager Mitte der Achtziger Jahre musikalisch hauptsächlich von Nice Price-Ausgaben der Klassiker der Rock- und Pop-Geschichte ernährte, die um 79 Schilling dünnes Vinyl, aber keine erklärenden Innencover boten. Was ich mir damals aus der erhältlichen Evidenz und ein paar höchst fehlerhaften Informationsquellen, federführend der Bastei Lübbe-Verlag, an Blödsinn zusammenreimte, treibt mir jetzt noch die Schamesröte ins Gesicht.

Das Endresultat ist beinahe dasselbe. Ein bunter Strauß von Mythen, eigentlich die ideale Form, Pop zu archivieren, schließlich ist ein spannender Mythos im Wertegebäude des Pop dem Faktum zumindest gleichwertig.

Was mich als bekennender Kulturpessimist bisher beängstigt hatte, war die trostlose Aussicht, die Vintage-Industrie könnte mit ihren endlosen Remaster-Kampagnen die kollektive Erinnerung so effizient kanalisieren, dass Gerüchte und Irrtümer nie wieder zu einem derart interessanten Wildwuchs fantastischer Fabeln wuchern dürfen wie damals, als die Wiederentdeckung der obskursten Winkel der Pop-Historie noch nicht zur professionellen Agenda der Katalogverwaltung (vormals Musikindustrie) gehörte.

Statt ideologischer Grabenkämpfe, basierend auf fiktiven tribalen Kriterien würden wir bloß einen faden Wettstreit der affirmativen Revisionismen samt Bonus-Tracks und Out-Takes durchspielen, die alles irgendwie gut, nur manches halt noch ein bisschen besser finden - ausgefochten auf dem immer selben Schlachtfeld in Gestalt der ersten vier Jahrzehnte Rock'n'Roll, um die auf immerdar der repetitive Reigen der Reissues rotiert (mit Kurt Cobains Tod als dem letzten Zeitpunkt der gefühlten gesellschaftsverändernden Kraft des Genres),
zusätzlich geboostet von geborgter Wikipedia-Oberschläue, deren ephemere Erkenntnisse ein jedes Pop Quiz zum Daumenturnier degradieren.

Es stellt sich heraus, ich hätte mich nicht zu sorgen brauchen.

Der Pop des Playlist-Zeitalters ist vielmehr eine surreale Welt, in deren von desorientierten Stehphrasen bevölkertem Gedächtnis Tin Machine mit Ziggy Stardust die Berliner Mauer gefällt haben, allerdings mit dem unschätzbaren Bonus, dass dort Rodriguez auf ewig in der Wiener Stadthalle spielt, Damons "Song of a Gypsy" jederzeit abrufbar ist und Leute wie Linda Perhacs, Bridget St John, Charles Bradley, John Howard, Vashti Bunyan und Bill Fay nie wieder vergessen werden, Pete Doherty dagegen möglicherweise schon.

In der Netto-Abrechnung eigentlich gar nicht so schlecht.