Erstellt am: 28. 2. 2014 - 07:56 Uhr
Into the afterglow
Es gibt ja die Sorte von Platten, die Kritiker_innen noch mehr als andere dazu bringen, den Leser_innen von sich selber zu erzählen.
Ich weiß, wie anstrengend das sein kann, schließlich hab ich gerade Joseph Stannards Artikel über "Morning Phase" im Quietus gelesen, und so leid es mir für ihn tut, dass seine sechsjährige Beziehung zu Ende gegangen ist, so wenig sagen seine Tränen darüber aus, dass dieses Album noch mehr eine "unabdingbare Verbindung zum Hier und Jetzt" herstellt als "Sea Change" vor zwölf Jahren. Damals, lässt Joseph uns ebenfalls wissen, war er gerade in einer stabilen, glücklichen Beziehung und fand keinen direkten Zugang zum von Beck in jenem Album ausgedrückten Trennungsschmerz. "Und was passierte dazwischen?", frage ich mich, während ich das lese, "In den sechs Jahren zwischen dem Beginn der gerade beendeten Langzeitbeziehung und der glücklichen vorher?"

Caroline
Der Gedanke läuft Gefahr, meinen eigenen Eindruck von "Morning Phase" zu überdecken. Ehe ich diesen Text hier im Flugzeug nach Wien zu schreiben begonnen habe, hatte ich nämlich Gelegenheit, alle 13 Tracks dieses Werks zum ersten Mal so zu hören, wie Beck sich das gedacht hat: In einem durch und praktisch ohne Ablenkung. Und das nicht einmal, sondern dreimal hintereinander, im Stau Richtung Heathrow.
Es war noch dunkel, als Beck nach dem orchestralen Intro "Cycle" die ersten Worte "Woke up this morning ..." sang, und in der im Auto versessenen Zeit bis zu dem Punkt, wo ich es zum dritten Mal hörte und dabei in das Meer von Bremslichtern vor mir starrte, war das Lied, aus dem Zeilen wie "Can we start it all over again? / This morning I lost all my defenses" in mein Bewusstsein sickerten, zu einer profunden Auseinandersetzung mit der Absurdität des modernen Lebens herangewachsen.
"Heart Is A Drum", mein liebster Song beim ersten Anhören, folterte mich mit dem Zeilenfragment "keeps you turning when you're standing still", seinen Referenzen auf Hank Williams' "Lost Highway" und dem hundertprozentig in genau derselben Situation wie meiner geschriebenen Couplet: "Does it hurt this way / To come so far to find they've closed the gate?"
"Time will wait for you"
Auch mein Herz war eine Trommel, so wie das von Beck, während mein Kopf sich im Licht der orangegelb glühend von elektronischen Verkehrsschildern in den Regen hinaus geschickten Mahnung "QUEUE CAUTION" eine aus Fahrzeit und noch hinzulegenden Meilen folgernde, immer bedrohlich in Richtung Boarding-Schluss rückenden Ankunftszeit zusammenrechnete. Die Londoner Ringautobahn M25, der berüchtigte, größte kreisförmige Parkplatz Europas bzw. Englands authentischste Entsprechung von L.A., nur mit schlechterem Wetter, war drauf und dran, mich zu besiegen.
Der Song "Unforgiven" gab indessen folgende Strophe frei: "Drive through the night / Far as it goes / Away from the deadline / Into the afterglow / Somewhere unforgiving / Time will wait for you", thematisch fast sowas wie ein auf dem Boden bleibendes Gegenstück zu bzw. das Negativ von Roy Harpers In-Flight-Epos "12 Hours of Sunset". Nimm das, Joseph Stannard - wie verstanden ich mich auch ohne deine Beziehungskrise von diesen Songs fühlen kann!
Kann aber auch gut sein, dass ich Becks Gemurmel bloß fehlerhaft dekodiert habe, so wie es gerade zu meiner eigenen Situation passte. Jetzt, wo ich meinen Flug doch noch erwischt hab, fühlen die Morricone-artigen Streicher-Arrangements seines Vaters David Campbell im auf "Unforgiven" folgenden "Isolation" sich gleich wesentlich weniger bedrohlich an.
Wie Beck selbst in praktisch jedem seiner Interviews erklärt – auch in dem sehr interessanten Gespräch mit Joseph Stannard, dessen Name ab hier nicht mehr in diesem Blog vorkommen wird –, hat es wenig Sinn, seine Texte zu analysieren. Er verwendet Phrasen als Stimmungsbilder ohne narrativen Zusammenhang. Das ist übrigens auch der Grund für mein persönliches, hiermit gelöstes, seit seinem ersten Auftauchen Anfang der 1990er bestehendes Beck-Rezeptions-Problem.
Ich hatte ja immer ein bisschen schlechtes Gewissen, weil ich Beck Hansen nur dann wirklich nahe kommen konnte, wenn er seine songwriterischen Saiten aufzog. Seit heute weiß ich, dass das nicht mit irgendeiner fehlgeleiteten technophoben Beats- oder (noch schlimmer) Funk-Allergie zu tun hat, sondern mit der irritierenden Hipster-Lingo, die er in diesen Lagen immer in seine kryptischen Texte zu verweben pflegt. Was interessiert mich des Teufels Frisur im Vergleich zu "Blue Moon", der lose auf einen weichen Klangteppich gestickten Geschichte (ja, in diesem Fall dann doch eine Geschichte) von Elvis in Vegas, konfrontiert mit einem Echo seines jüngeren Ich, das einst so unschuldig über den blauen Mond sang (offensichtliche autobiographische Bezüge inklusive).
"Never wake up"
Der auch auf dem Debüt "Mellow Gold" gelegentlich schon aus dem Sperrholzkabinett lugende, balladeske Beck von "Mutations" oder "Sea Change", dieser melancholische Narkoleptiker, der natur-stoned im satten Sound seiner Martin D-28 schwelgt und lange Silben auf Kardinalschnitten-dicken Reverb-Wolken bettet (auch sein natürliches Sprechtempo ist übrigens ziemlich langsam), der findet verlässlich den Weg in meine Seele.
"Tell me I'm dream dream dream dreaming and never wake up", singt Beck auf "Morning Phase" selbst noch in einem der vergleichsweise flottesten Songs, dem sachte durchs Country schlapfenden "Blackbird Chain" (aufgenommen in Nashville, selbstredend).
Richard King hat gestern getweetet, er habe sich selbst schon den ganzen Tag völlig in "Morning Phase" verloren. So, meinte er, müssten sich einst die Hippie-Kids gefühlt haben, als sie zum ersten Mal Neil Youngs "Harvest" hörten.
Der Vergleich ist angebracht. Und wir sind nicht die einzigen, denen es so geht. Vor ein paar Jahren, als Beck auf Tour die Bänder eines anderen geplanten Songwriter-Albums verlor, konnte er nichts davon aus dem Gedächtnis wieder herstellen. Vielleicht war das ja auch eine der Motivationen für den "Songreader" letztes Jahr, das Zurückgreifen auf die archaische Methode, seine Musik aufzuschreiben. Das hätt' ich ihn gefragt, wenn er letzte Woche vor seiner Interview-Reise nach Europa nicht fluguntauglich krank geworden wäre (genaueres weiß man nicht). Es zeigt jedenfalls, dass die alte Paul McCartney-Regel ("Wenn du dich an deinen Song nicht erinnerst, war er nicht gut genug") in der ätherischen Welt von Beck für ihn wie für seine Hörer, keine Gültigkeit hat.
Zwei der definiertesten, unverwechselbarsten Songs auf "Morning Phase" ("Turn Away" und "Country Down") kommen erst ganz am Schluss des Albums, so als hätte Beck die Trance, in die er uns versetzt hat, nicht durch um Aufmerksamkeit heischende Hooks gefährden wollen. Ich schreibe diesen Satz übrigens am Donnerstag mittags kurz vor der Landung, hätte meine elektronischen Geräte schon abdrehen sollen. Die "Morning Phase" ist vorbei, draußen brennt das "Waking Light".