Erstellt am: 10. 1. 2014 - 23:43 Uhr
Cold Snap
Wie willkommen man sich fühlt, wenn man sich vom post-weihnachtlichen Wien her kommend nach dem nahtlosen Durchkreuzen dieser grenzenlosen - wenngleich zugegebenermaßen nach außen schon auch festungsdichten - Kontinentalzone auf dem Bahnhof Brüssel Süd am aufgeklebten Bärenmützenwächter vorbei in die Aufnahmeschleuse des Eurostar einzureihen hat.
Dieses tut man, um sich dort einer flughafengleichen Erniedrigung samt Gepäcksperlustration zu unterwerfen, Tribut leistend der paranoiden Überzeugung der Insel, die man seit bald 17 Jahren seine Heimat nennt, dass alle Böslinge sie dringend heimsuchen wollen und nur die nötige Anzahl outgesourceter, Stempel schwingender Dunkelblauröcke sie davon abhalten wird.
Neuerdings stehen jene dann übrigens auch am Zielbahnhof in Ashford bereit, wenn du eh schon zwei Kontrollen überstanden und dich in Quarantäne unterm Kanal durchschieben hast lassen, um einmal noch einen Blick auf deinen burgunderfarbenen Beleg des Rechts auf Indefinite Leave to Remain zu werfen, aber diesmal ließen sie die einreisende Baggage eh bloß zum Spaß in den Taschen wühlen, und winkten uns dann erst recht ungeschaut durch. Schengenländer, die!
All das ist fast eine Woche her und dementsprechend halb vergessen, wäre da nicht der endlose Strom xenophoben Gewäschs, der einem seither an Ohr und Aug gespült wurde. Zum Beispiel gestern, als ich beim elektronischen Weiterreichen der Trauer-Tweets der Feuerwehrgewerkschaft anlässlich der Schließung von zehn historischen und im Ernstfall überlebenswichtigen Feuerwachen in Londons Mitte die Kommentare von außerhalb meiner sonstigen, gemütlichen Twitterblase las.
Da brachten es die aufgebrachten Londoner_innen glatt fertig, die hinter den Feuerwachenschließungen stehende Einsparung von 45 Millionen Pfund durch einen konservativen Londoner Bürgermeister irgendwie in Zusammenhang mit der populären Fiktion des Sozialschmarotzertums fortpflanzungswütiger Einwandererhorden zu stellen. Ich könnte mir die Mühe machen, ein paar der dümmsten Beispiele dieser argumentativen Verrenkungen zu zitieren, aber ehrlich gesagt haben sie das nicht verdient.
Erwähnen tu ich sie bloß, weil sie in das Bild der indignierten Empörung passen, die die Luxemburger Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Viviane Reding geerntet hat, seit sie neulich das himmelschreiend Offensichtliche aussprach: Dass die Einwander_innen mit ihren Steuern und ihrer Arbeit ungleich mehr zur britischen Wirtschaft beitragen, als die an sie gehenden Zuwendungen des Sozialwesens kosten, und alle Behauptungen des Gegenteils seitens der britischen politischen Elite nur der Ablenkung von selbstgemachten Problemen dienen.
Eigentlich hätte die Labour Party als Opposition zu dem Thema ja einmal eine Linie gehabt, nämlich nicht die Einwander_innen, sondern deren schamlose Ausbeutung durch den Arbeitsstrich zu bekämpfen, die am unteren Ende der Einkommensskala die Löhne drückt. Stattdessen stieß aber gestern die große Labour-Hoffnung Schattenwirtschaftsminister Chuka Umunna kräftig ins Horn der Idioten, indem er erklärte, die Sache mit der Bewegungsfreiheit innerhalb der EU sei als eine "der Arbeiter, nicht der Arbeitssuchenden" gedacht gewesen.
Wie jeder Smiths-Fan weiß, werden Zweitere schnell zu Ersteren, sobald "I was looking for a job" nach erfolgter Immigration erfolgreich in "and then I found a job" mündet, ergo heaven knows, was er gemeint haben kann, wenn er sagte, dass er Hochausgebildete daran hindern will, die Jobs Minderausgebildeter anzunehmen. Ob er etwa Bulgaren und Rumäninnen an der Grenze nach Vorweisen ihrer Lebensläufe als zu hoch qualifiziert zur Einreise ablehnen will (Gottseidank bin ich Studienabbrecher)?
Aber all das spielt eigentlich kaum eine Rolle, Hauptsache man steht meinungsgeforschten 75 Prozent der Bevölkerung, denen durch gefühlte 95 Prozent der Medien erfolgreich Überfremdungspanik eingetrichtert wurde, nicht als "soft touch" gegenüber.

Robert Rotifer
In meinem Foto-Folder liegt obiges Bild einer Titelseite der Sun von vor Weihnachten, die ich damals in einem meiner Blogs hier verwenden wollte (aber nicht hab) und die mir seither beim Durchskippen immer noch einen kalten Schauer über den Rücken jagt. So sahen in meiner Jugend tief im vorigen Jahrhundert die nur einen radikalen Rand interessierenden Postillen der Rechtsextremen aus, aber bevor mir einfällt, dass meine Geburtsheimat in dieser Beziehung seither nicht minder unappetitlich geworden ist, bleibt festzustellen:
Als hier lebender Kontinentaler sehe ich mich von all dem nicht sonderlich betroffen, weil ich weiß, dass es da ja nicht gegen alle Kontinentalen geht, sondern nur gegen die, die aus Not migrieren, und selbst dann eigentlich nicht spezifisch gegen Ausländer_innen, sondern überhaupt gegen alle Opfer der Krise, egal wo sie herkommen. Selber schuld, wenn sie sich nicht aufraffen, aber unerwünscht, wo immer sie aufkreuzen.
Derzeit scheint sich dieses Land nämlich gerade in einen Strudel der rasenden Missgunst zu stürzen, der seinesgleichen sucht. 25 Prozent des Sozialbudgets will Schatzkanzler Osborne einsparen (schwierig, wenn rund die Hälfte davon die vergleichsweise eher mickrigen staatlichen Pensionen bezahlt), und dieses Vorhaben, so heißt es, sei populär.
Solange die Leute nicht draufkommen, dass nicht nur die Bulgar_innen, die Rumän_innen und die Arbeitsscheuen, sondern auch sie selber damit gemeint sind (nur drei Prozent des Sozialbudgets geht an Arbeitslose, EU-Einwander_innen sind sowieso Netto-Zahler_innen).
Boris Johnson glaubt offenbar, das kann nicht mehr lange dauern und sucht - ja, er derselbe Londoner Bürgermeister, der die Feuerwachen schließen lässt - bereits fieberhaft Geld für den Ankauf von Wasserwerfern. Prioritäten sind alles.
Nicht, dass die 330.000 behinderten Menschen, deren Unterstützung Staatssekretärin Esther McVey kürzen will auf die Straße gehen könnten, aber die Tatsache, dass sie diese Kürzungen mitten in der Vorweihnachtszeit groß ankündigte (aber erst nach den nächsten Wahlen durchführen will), zeigt, dass die Demonstration von Härte gegen sozial Schwache im derzeitigen Klima als Mittel zum Wähler_innenfang angesehen wird.
Der Sender Channel Four, bis auf seine tatsächlich exzellenten Nachrichten verkommen zu einem creepy Kuriositätenkabinett traurigster Reality-TV-Formate, versucht indessen, aus dem geschürten Hass auf die Armen mittels einer Dokusoap namens Benefits Street Kapital zu schlagen, und macht dabei eine ganze Straße in Birmingham bedenkenlos zum Spott der Nation.
Ganz im Ernst: Als ich dieses Land kennen und lieben gelernt habe, war immerhin die in Sachen sozialen Instinkts noch vom unerweichlichsten Straßenpoller übertroffene Margaret Thatcher an der Macht, aber was da gerade los ist, lässt selbst die Achtziger noch wie ein Love-In aussehen. Okay, das vielleicht auch wieder nicht), aber wenigstens war das Land damals in zwei Hälften gespalten, während jetzt die Opposition bloß halbherzig mithüpft (von den linientreuen LibDems gar nicht erst zu reden).
Komm schon, Wahlheimat, ich kenn dich (und meine Freund_innen in dir) zu gut, so unsympathisch, wie du tust, bist du doch gar nicht. Warst du zumindest nicht.