Erstellt am: 15. 11. 2013 - 08:59 Uhr
NSA-Skandal schadet US-Internetindustrie
Die NSA-Spionageaffäre wirft ihre Schatten auf immer weitere Teile der US-dominierten Internetindustrie, vor allem, was die Geschäfte außerhalb der USA betrifft. Die Europaumsätze beim Cloud-Computing bleiben weit hinter den Erwartungen zurück und nun beginnt sich der NSA-Skandal auf ein zukünftiges Geschäftsfeld auszuwirken, das sich "Indoor Location" nennt.
Dieser harmlose Begriff bezeichnet die Verfolgung von Smartphones auf Schritt und Tritt im Wortsinn. Die Geschäftsmodelle von Google, Apple und Co., die im Online-Sektor seit Jahren große Gewinne abwerfen, sollen damit in die reale Welt übertragen werden.
So wie Cookies und Scripts die "Bewegungen" der Benutzer im virtuellen Raum verfolgen, werden nun vernetzte Sensorsysteme eingesetzt, um neue Daten zur Vermarktung in der Offline-Welt zu gewinnen: User-Tracking im Einkaufszentrum und im Supermarkt. Richtig übersetzt bedeutet "Indoor Location" nämlich "zentimetergenaue Ortung von Menschen in Gebäuden".
Die Umsätze im Onlinegeschäft liegen in den USA derzeitweit unter zehn Prozent des gesamten Einzelhandels. Für die Internetkonzerne ist hier also enormes Wachstumspotential vorhanden.
Sensoren in der Jackentasche
Nutzerprofile, die Vorlieben, Interessen und Gewohnheiten aus dem Verhalten im Netz abbilden, können so um das Verhalten der jeweiligen Person im Offline-Leben ergänzt werden. Die Technologien dafür sind in den Smartphones längst vorhanden.
Erforderlich sind nur noch entsprechende Sensornetze in Supermärkten und Einkaufszentren, um Bewegungen, Verweildauer und eine Vielzahl anderer Verhaltensweisen zu erfassen. Auch hiefür ist die nötige Technologie längst massenhaft verfügbar und billig ist sie obendrein.

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Kreuzpeilungen in WLAN-Netzen
Wenn der Benutzer also in Zukunft zustimmt, dass sein Standort von irgendeiner App ermittelt und weitergegeben wird, dann ist auch das so zu verstehen. Hier geht es nicht um Standortdaten aus Handynetzen und dem GPS-System, denn die sind für das neue Geschäftsfeld viel zu ungenau.
Für User-Tracking im realen Leben führt die betreffende App erst Kreuzpeilungen zu allen WLAN-Stationen durch und gleicht sie mit Bluetooth-Sensoren in und um die Shops im Einkaufstzentrum ab. Die in den Smartphones verbauten Akzelerometer und Magnetfeldsensoren - Beschleunigungsmesser und Kompasse - zeigen nicht nur Bewegungsrichtungen an, sondern auch, ob der Betreffende bummelt oder gezielt sucht, oder ob er es gerade eilig hat.
Ortung in Einkaufszentren
Auf dieses Geschäftsfeld hatten die Internetkonzerne jahrelang hingearbeitet, den Grundstock dafür legte die massenhafte Erfassung von WLAN-Netzen. Die hatte anfangs vor allem dazu gedient, die Ortung der Smartphones zu gewährleisten, wenn der Empfang von GPS-Signalen wegen der Abschattung durch Gebäude mangelhaft oder gar nicht funktionierte.
Diese massenhaften Datenzugriffe auf fremde WLAN-Netze hatten etwa Google bereits mehrmals in Konflikte mit europäischen Datenschutzgesetzen gebracht. Nun wird dieselbe Methode granulär verfeinert, die entsprechenden WLAN-Netze werden eigens für Ortungs- und Überwachungszwecke in den Einkaufszentren eingerichtet.
In den Aufträgen des Pentagon zeichnete sich dieser Trend seit Jahren deutlich ab. Die neuartigen Waffensysteme basieren allesamt auf Sensor- und Kommunikationsnetzwerken, Drohnen sind ebenfalls nichts anderes als Sensorsystme in der Luft.
Militärische Sensornetze
Hier ist neben den Drohnen die nächste Militärtechnologie dabei, in das zivile Leben massiv vorzudringen. Derartige Sensornetze sind seit Jahren im Irak und in Afghanistan im Einsatz, nur die Sensoren differieren. In Kriegsgebieten sind das etwa vernetzte "Messfühler" für Strahlung im Infrarotbereich, um Personen in der Nähe aufzuspüren, miniaturisierte Funkscanner zur Detektion von Bomben oder Kameras mit Gesichtserkennung zur Kontrolle von Eingängen.
Der Aufwand für ein kommerzielles Sensornetzwerk im Einkaufszentrum ist im Vergleich dazu vernachlässigbar, zumal die Objekte der Überwachung ja mit den Smartphones bereits alle nur denkbaren Sensoren mitbringen.
Biometrie und Luftdruck
Im Smartphone verbaute Luftdrucksensoren verraten, ob eine Person auf dem Weg ins nächste Stockwerk ist. Kameras im Geschäft in Kombination mit einem primitiven Biometrieprogramm, das nur die Augen identifiziert und ihren Blickwinkel erfasst, verraten dann dem Geschäftsinhaber, wofür sich der betreffende Kunde gerade besonders interessiert.
Dass "Indoor Location" große Geschäfte bringen wird, wurde von den "Techno-Evangelisten" der Internetfirmen und den Marktforschern im Frühjahr als das neue Branchenmantra ausgerufen. "Indoor ist der Ort, wo wir Geld ausgeben, Freunde treffen und Geschäfte machen", schrieb etwa Don Dodge von Google über "das nächste große Ding" nach Cloud-Computing.
Evangelisten, Roll-Outs
Die Vorteile: Planung der Wege entlang der eigenen Einkausfsliste, Ad-Hoc Sonderangebote von Geschäften, an denen man gerade vorbeigeht, Freunde einfach treffen usw. Neben einer Reihe von Anwendungen für die Industrie werden von Dodge aber auch Anwendungen für "Militärs und Geheimdienste" aufgezählt, wie etwa "Tracking von Teammitgliedern und Gütern bei Missionen im Dunklen oder an sehr bevölkerten Orten."
Noch im April wurde ein Riesengeschäft mit "Indoor-Ortung" vorausgesagt, die Erträge würden GPS-basierte Services wie Routenplanung usw. weit übertreffen
All das spielte sich im Frühjahr 2013 ab, als noch nicht bekannt war, dass die NSA massenhaft Datenleitungen und Rechenzentren dieser Internetfirmen infiltriert hatte. Da ging die Branche noch vom Beginn des großen Roll-Outs im Frühjahr 2014 aus.
Plötzliche Ruhe nach dem Hype
Mit Start der Enthüllungen über das endemische Ausmaß der NSA-Spionage wurde es um "Indoor Location" plötzlich still. Die für den Herbst erwartete Hype ist ebenfalls vollständig ausgeblieben. Google gab Anfang Oktober lediglich den Start eines Programms bekannt, das die Auswirkungen von Online-Werbung auf das Kaufverhalten im Offline-Handel untersuchen soll.
Man hat offenbar erkannt, dass sich das Marktumfeld im Zug der Snowden'schen Enthüllungen ziemlich verändert hat. Das Roll-Out eines neuen und so umfassenden Ortungsdienstes - noch dazu in der realen Lebenswelt - während immer mehr über die Datenabgriffe der NSA bei eben diesen Internetfirmen bekannt wird, erschien den Internetkonzernen offenbar nicht opportun.
Erster Kollateralschaden bei Cisco
Wie hoch der Kollateralschaden des NSA-Skandals für die Geschäfte der US-Internetfirmen ausfallen wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschätzen. Am Mittwoch gab jedenfalls mit Cisco ein Paradeunternehmen der US-Internetindustrie einen Umsatzeinbrauch bekannt, der nicht erwartet worden war.
Mit einem Minus von zehn Prozent blieb der globale Quartalsumsatz weit unter den Erwartungen der Analysten. Verantwortlich dafür waren Umsatzeinbrüche bei Internetroutern zwischen 25 und 30 Prozent in Schwellenländern wie Russland oder Brasilien. Cisco-Chef John Chambers nannte den NSA-Skandal explizit als Grund dafür und prophezeite, dass es auch anderen US-Firmen ähnlich ergehen werde.