Erstellt am: 15. 11. 2013 - 12:32 Uhr
Die Macht des Geschichtenerzählens
Es sind bruchstückhafte Bilder und verschwommene Szenen, die Saba an den Tag in ihrem Leben erinnern, der alles verändert. Am Flughafen von Teheran wird die Elfjährige von ihrer Zwillingsschwester Mahtab und ihrer Mutter getrennt. Für immer, wie ihr Vater ihr versichert.
Während die kleine Saba mit gebrochenem Herz und großer Sehnsucht alleine mit ihrem Vater in einer kleinen iranischen Provinz nach der islamischen Revolution aufwächst, kann sie den essenziellen Fragen nicht entkommen, die ihre innere Stimme immer wieder stellt: Sind ihre Zwillingsschwester und ihre Mutter tot? Und wenn ja, ist sie daran schuld? Oder sind die beiden in die USA geflüchtet und haben sie mit ihrem Vater zurückgelassen?
Die Hoffnung der Lüge
"Ein Teelöffel Land und Meer" ist ein erzählerisches Glanzstück, das so vielschichtig und komplex ist, dass man zu Beginn den Boden unter den Füßen verliert. Die Erzählperspektiven wechseln rasch und die Chronologie der Geschehnisse wird immer wieder unterbrochen. Nur ganz langsam und behutsam setzt die Autorin Dina Nayeri das Psychogramm eines jungen Mädchens zusammen, das einerseits versucht, seine Träume zu leben und andererseits zwischen Wahrheitssuche und der eigenen Flucht in erträumte Geschichten hin und her gerissen ist.

Mare Verlag
Auch wenn nur hin und wieder dunkle Erinnerungsfetzen von ihrer Zwillingsschwester auftauchen, erzählt Saba ihren Freunden Ponneh und Reza von geheimnisvollen Briefen, die ihre Schwester Mahtab ihr aus Amerika geschickt hat. Mit Hilfe von illegalen Fernsehserien aus den USA und verbotenen Büchern konstruiert sich Saba eine Welt, in der ihre Mutter und ihre Zwillingsschwester alle Emigrantensorgen bewältigen und in einem Land unbegrenzter Möglichkeiten ihre Träume leben. Das ist ihre seelische Nahrung, die ihr Antrieb und Durchhaltevermögen liefert, selbst die schlimmsten Dinge zu überstehen.
Denn Sabas Leben ist geprägt von Angst und Unterdrückung im Iran der 1980er Jahre, nach dem Sturz des Schahs und der Errichtung einer islamischen Republik. Ihr Vater versucht heimlich, die christliche Erziehung seiner Frau fortzuführen, immer mit der Sorge, entdeckt zu werden. So trifft auch Saba eine in diesem gewaltsamen System logisch erscheinende Entscheidung nach der anderen. Dabei verkümmern ihre Träume und Pläne immer mehr, bis sie in einer Sackgasse aus zerbrochenen Illusionen und falsch verstandenen Lebensweisheiten anlangt. Und so kann sie mit dem Rücken zur Wand nicht mehr anders, als einem waghalsigen und gefährlichen inneren Drang endlich nachzugeben und einen Strich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen.
Bilder der Reflexion
Dina Nayeri ist im Iran aufgewachsen und mit acht Jahren mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten emigriert. Die Initialzündung für ihren Debütroman war es, sich vorzustellen, wie wohl ihr Leben ausgesehen hätte, wäre sie im Iran geblieben. So ist die Hauptfigur Saba das Spiegelbild ihres Gedankenspiels, das sich mit persönlichen Erfahrungen und Erinnerung an Nayeris Kindheit in einem iranischen Dorf mischt. Die von Saba erträumte Immigrantenwelt ihrer verschollenen Zwillingsschwester hat der Autorin die Möglichkeit geboten, ihre eigenen mühsamen und schweren Anfangsjahre in Oklahoma zu reflektieren. Dabei spielt sie gekonnt mit Klischees, die sich aus falschen Erwartungshaltungen speisen und stellt ihnen die oft harte Realität entgegen.

Henri Blommers
"Ein Teelöffel Land und Meer" ist mit seiner sehr präzisen aber stimmungsvollen Sprache ein manchmal schonungslos ehrliches und dadurch sehr berührendes Buch über das Aufwachsen im Iran. Dort, wo Dina Nayeri mit selbst Erlebtem und Erinnertem nicht mehr weiter kam, hat sie durch jahrelange Recherche und viele Interviews vielschichtige Informationen einflechten können. Sehr akkurat und mit Liebe zum Detail entführt sie uns mit intensiven Gerüchen, farbigen Landschaftsbildern und salzigem Meeresrauschen in ein fremdes Land, dessen Menschen von einem totalitären Regime und traditionellen Werten geprägt worden sind. Nayeri verklärt dabei nichts, sondern schafft es, mit ihren Charakteren ein sehr differenziertes Bild zu zeichnen.
Tipp:
Die Autorin Dina Nayeri liest am Sonntag 17. November 2013, um 20:30 im Wiener Theater Odeon im Rahmen von Gender - tun und lassen".
Vor allem die Rolle der Frauen im Iran, aber auch die von Immigrantinnen ist ein zentraler Punkt des Buchs.
Durch vier verschiedene "Ersatzmütter" bekommt Saba im Lauf ihrer Jugend ganz verschiedene Ideen davon vermittelt, was es bedeutet, eine Frau zu sein.
Die so gelernten strengen gesellschaftlichen Regeln verstricken Saba in ein Netz, in dem sie kaum Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung hat. Und doch vermittelt uns Dina Nayeri, dass man immer eine Wahl hat. Und sei es "nur" in Form von selbst erschaffenen Geschichten, die einem die Konstruktion einer alternativen Zukunft ermöglichen. Diese können oft mächtiger sein, als jedes Regime und jeder auferlegte Zwang. Genau darin liegt die hoffnungsvolle Kraft von "Ein Teelöffel Land und Meer".
Wissen Sie, auch ich habe eine Gabe – die beste überhaupt, die Macht über Worte, über Legenden, Wahrheit und Lüge. Für Geld flechte ich aus Binsen Körbe und Hüte und kleine Teppiche, aber für meine Freunde kann ich eine Geschichte so fein und so schön spinnen, mit solchen Höhen und Tiefen und leisen Tönen, dass Kinder und Erwachsene sich davon bannen lassen wie Schlangen in einem Korb. Sie wiegen sich mit mir hin und her, lassen sich von mir entführen.
Das Gespräch mit Dina Nayeri...
... über ihren Debütroman, die Rolle der Frauen in der Literatur, über aktuelle Entwicklungen im Iran und warum sie sich diese Geschichte von der Seele schreiben musste.
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