Erstellt am: 17. 10. 2013 - 16:14 Uhr
Instant Classic
Heute in der Früh begann es mit dem atemlosen Bericht des Showbiz-Korrespondenten Colin Paterson im BBC Radio 4 Today Programme. Der arme Mann hatte sich um Mitternacht die Morrissey-Autobiografie besorgt (wie sonst nur bei Harry Potter wurden für das Buch in ausgesuchten Läden die Öffnungszeiten vorverlegt) und im Rest der Nacht alle 457 Seiten davon verschlungen, um uns nun in zwei oder drei Minuten live auf Sendung den Inhalt nachzuerzählen.
Vor lauter Übernachtigkeit sprudelte es nur so aus ihm hervor: Mick Jagger sei gekommen, um die Smiths spielen zu sehen, aber nach nur vier Nummern wieder gegangen. Vanessa Redgrave sei eines Tages vor der Tür gestanden und habe um Hilfe für das Volk von Namibia gebeten. Michael Stipe habe... Oh je, ich hab schon wieder vergessen, was Michael Stipe gemacht hat.
Aber Paterson erzählte uns auch über Morrissey selbst. Dass der erst im Alter von irgendwasunddreißig seine erste sexuelle Beziehung gehabt habe, und zwar "with a man!" (who knew), dass er später erwogen habe, mit einer Frau Kinder zu kriegen, und dass ein(e) Lehrer(in?) ihn unsittlich berührt habe, als er vierzehn war.

APA/GEORG HOCHMUTH
Kaum ein Wort über irgendwas, das mit dem Grund zusammenhängt, warum wir (also alle, die das hier angeklickt haben) uns für Morrissey interessieren, nämlich seine Musik bzw. die der Smiths, die Hintergründe des Songschreibens vielleicht, der Schaffensprozess, das eigene Verhältnis zum verewigten Werk im Zusammenhang mit seiner Zeit.
Und abgesehen davon, dass ich die britische Obsession der Erkundung von Morrisseys Sexualleben nie ganz verstanden habe, stimmte Patersons Versicherung, das Buch sei voll der erhofften "titbits" (Leckerbissen), mich nicht gerade hoffnungsvoll.
Es mag uns schon aufgefallen sein, dass das alte Pop- und Rock-Establishment in den letzten Jahren von einer Schreibwut sondergleichen überfallen worden ist, und ich habe mich durchaus selbst davon zum Zielpublikum machen lassen.
Ich fühlte mich von Keith Richards immerhin einigermaßen geschickt zur Sympathie für eine ziemlich trostlose Weltsicht verführt, von Neil Young anspruchslos unterhalten (was aber eigentlich nicht seine Aufgabe sein sollte), von Pete Townshend, der mir statt dem, was mich interessierte, nur verzichtbare Intimgeständnisse lieferte (zwecks Glaubwürdigmachen dessen, was er nicht zu gestehen hatte), eher enttäuscht und bin gerade mitten in Ray Davies' drittem autobiografischem Band (da kann sich Bob Dylan was abschauen), der überraschenderweise sein bisher bester zu werden droht.
Der Grund für all das ist ganz offensichtlich. Ein Mensch, der Morrissey ziemlich nahesteht, meinte vor zwei Jahren oder so, als ich ihn darauf ansprach, dass der Meister schon lange ohne Plattendeal dasteht: "Der Deal, den Morrissey will, existiert nicht mehr."
Will heißen: Die Plattenindustrie zahlt keine großen Vorschüsse mehr. Die Buchverlage dagegen schon (einstweilen noch, wie man mit einem Blick auf das Kindle-Display bei Waterstone's sagen muss... Kein Selbstbetrug hier so wie damals bei der Musikindustrie, wir wissen alle, wo das enden wird).
Man kann jetzt irgendwas Zynisches über den aufwendigen Lebensstil dieser Millionäre ablassen, die einen letzten Weg suchen, sich durchfüttern zu lassen, obwohl das in der Praxis immer ein bisschen anders aussieht. An all diesen Leuten hängt nämlich ein ganzer Rattenschwanz von Assistent_innen, Roadies, Bandmitgliedern, deren Familien und deren Hypotheken, sie sind wandelnde Kleinbetriebe, die alle um sich herum glücklich machen, wenn sie die saftlos gewordene Frucht ihrer Kreativität noch einmal gründlich quetschen.
Man kann auch handliche Parallelen zur jüngeren Vergangenheit des Musikbusiness ziehen. Wie aus all diesen Autobiografien hervorgeht, bekamen all die oben genannten Leute ihre großen Vorschüsse nämlich auch von der Musikindustrie erst zu dem Zeitpunkt, wo jedeR Fan und Kritiker_in längst sehen konnte, dass der kreative Zenith überschritten war. Umgekehrt gesagt: Der kleine Scheck ermöglicht die Kreativität (weil man dann nicht mehr Kellnerieren gehen muss), der große Scheck hemmt sie. Interessant, dass Leute wie zum Beispiel Van Dyke Parks oder Nick Lowe, die vor 45 Jahren schon große Sachen fertigbrachten, immer noch große Sachen fertigbringen, weil der Ruhm ihrer früheren Tage sie nicht erdrückt.
Wo ich vorhin schon Bob Dylan erwähnt habe: Die angestrengte Entstehungsgeschichte von dessen Buch "Tarantula", wie sie etwa in David Hajdus "Positively 4th Street" dargestellt wird, war wiederum ein frühes Beispiel dafür, was schiefgehen kann, wenn Musiker_innen zur Erfüllung eines Deals Bücher schreiben.
Was damals von Dylan erwartet wurde, war allerdings literarisches Genie. Von Morrissey dagegen verlangt man "titbits" - was seine Forderung an den Verlag, sein Buch in der sonst für Weltliteraturklassiker vorbehaltenen Reihe "Penguin Classics" zu veröffentlichen, als herrliche Selbstironie erscheinen lässt - wenngleich dieselben humorbefreiten Gemüter, die seine Texte immer für "zu deprimierend" halten, diese Idee selbstverständlich ganz straight als reinen Größenwahn deuten mussten.
Und sicher, davon ist schon auch einiges dabei, aber ein Menschenbeobachter wie Morrissey ist wohl intelligent genug, diesen Eindruck vorauszusehen. Genauso wie den Umstand, dass sein Buch schon am Tag seiner Veröffentlichung zum niedrigen Verkaufspreis der (normalerweise altersbedingt tantiemenbefreiten) Penguin Classics angeboten wurde. Acht Pfund Neunundneunzig, das sind zehn Euro sechzig.

Robert Rotifer
Und, wird in diesem Blog jetzt endlich was über den Inhalt zu lesen sein?
Spoiler-Alert: Nein.
Die andere, alles überstrahlende, vorhersehbare Ironie ist ja nämlich, dass dieser Klassiker von den sozialen Medien zu jenem Zeitpunkt, da ich diesen Blog schreibe, bereits restlos verspeist ist. Von der ersten Phase ("Ich hab schon was gelesen und tippe jeweils 140 Zeichen davon ab") über die zweite ("Hier ist der Link zu meiner Schnellkritik" - empfehle dazu übrigens die von Michael Hann im Guardian), die dritte ("Alle hier sollten wissen, dass mir das Morrissey-Buch am Arsch vorbeigeht") und die vierte (die Parodie, siehe Hashtag #Top10SurprisesinMorrisseysBook auf Twitter) bis zur letzten, fünften ("Können die Leute bitte endlich aufhören, hier über Morrissey zu quatschen?") sind wir schon fertig damit, während nebenan im Penguin Classics-Regal die arme alte "Ilias" Staub ansetzt.
Ich für meinen Teil werde mir mit diesem Buch Zeit lassen, nicht zuletzt, weil ich davor noch meinen Ray Davies zu lesen hab, dazwischen "Yeah Yeah Yeah - The Story of Modern Pop" von Bob Stanley auf 740 Seiten und irgendwann vielleicht endlich auch wieder einmal ein ordentliches Buch, eins mit gut erfundenen Geschichten drin.