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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

5. 10. 2013 - 01:21

Mil vs. Mail vs. Marx

Können Marxisten gute Briten sein? Die Dämonisierung des verstorbenen belgischen Emigranten und Soziologie-Professors Ralph Miliband, ausgerechnet durch eine Tageszeitung mit faschistischer Vergangenheit.

Weil das Internet so ein seltsames Tier ist, wollte ich diese Geschichte hier ja eigentlich nicht bringen. Sich hier über die Ausritte einer auf das Verspritzen von Kleinbürgergalle spezialisierten, britischen Tageszeitung zu empören, hat dann doch nicht so viel Sinn bzw. dient im Gegenteil bloß noch den kommerziellen Interessen einer Publikation, die systematisches Trollen als journalistisches Geschäftsmodell betreibt.

Die Daily Mail wurde so immerhin zur meistbesuchten Zeitungswebsite der Welt.

Weil ich dazu nicht beitragen will, verlinke ich also nicht direkt auf einen Hetzartikel vom letzten Wochenende, in dem die Mail unter der Überschrift „The Man Who Hated Britain“ den 1994 verstorbenen Vater des Labour-Chefs Ed Miliband zum Ziel einer umfassenden Charakter-Vernichtung machte.
Ignorieren lässt die Geschichte sich nach den Ereignissen der vergangenen Woche allerdings auch nicht mehr.

Die Story ging ungefähr so: Der spätere marxistische Soziologieprofesser Ralph Miliband war 1940 als belgischer Jude vor der Nazi-Okkupation aus Belgien nach Großbritannien geflohen. Im Alter von sechzehn Jahren habe er in seinem Tagebuch die Briten als "rabiate Nationalisten" bezeichnet, denen man manchmal beinahe wünsche, dass sie den Krieg verlören, "damit sie einmal sehen, wie das ist".

Daraus, und aus seinen späteren kritischen Äußerungen zur britischen Klassengesellschaft, zur Aristokratie, zur Monarchie, Margaret Thatcher, dem Falklandkrieg und allem, was einen Marxisten sonst noch stören kann, leitete der Mail-Artikel ab, Miliband habe Britannien gehasst. Und im "sinistren politischen Programm" seines Sohnes setzten sich nun die Visionen des marxistischen Vaters fort.

Daily Mail: "We repeat: This man DID hate Britain"

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Ed Miliband wehrte sich gegen die Verleumdung seines Vaters (und seiner selbst) mit einer in der Mail veröffentlichten Replik. Er verwies darin darauf, dass der Mann, der angeblich Britannien hasste, sich kurz nach seiner Emigration freiwillig zur Royal Navy meldete und in jener bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs diente.

Die Mail druckte neben Milibands Text ihren ursprünglichen Artikel noch einmal ab, diesmal mit der Überschrift: "We repeat: This man DID hate Britain", zuzüglich eines völlig zügellosen Kommentars, der die erste Story wie ein Musterbeispiel ausgewogener Berichterstattung erscheinen ließ.

"An evil legacy", stand in der Überschrift - ein böses Erbe. "Evil" ist ein ziemlich starkes Wort, üblicherweise reserviert für Mörder und Tyrannen.

Miliband Senior habe Britannien tatsächlich gehasst, hieß es da, und "sein ganzes Leben" der Aufgabe gewidmet, "die leicht zu beeinflussende Jugend zu seinem giftigen Glauben zu konvertieren."

Und dann kam die Mail zum Kern der Sache: Ed Milibands Rolle im Entwurf einer Royal Charter, die nach der Abhör-Affäre bei der News of the World ins schiefe Licht gekommenen Recherche-Methoden der britischen Presse regeln soll.

Ralph Milibands Sohn sei drauf und dran, das Werk seines Vaters zu vollenden: "Wenn er die Pressefreiheit zerschmettert, wird sein Vater noch von seinem Grab aus, wo er nur 12 Yards von den Überresten von Karl Marx ruht, zweifellos stolz auf ihn sein. Aber er wird Hammer und Sichel durch das Herz einer Nation getrieben haben, die so viele von uns wahrhaft lieben."

Mail: "Marxism... and just how much did Ralph influence Red Ed?"

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Weil mein Paraphrasieren und Übersetzen spätestens hier mit dem blanken Irrsinn des Originals nicht mehr mithalten kann, erlaube ich mir, auf den Blog 33 Revolutions Per Minute hinzuweisen, in dem Dorian Lynskey am Montag eine sarkastisch annotierte Version des Daily Mail-Kommentars veröffentlicht hat.

Wer sich nur ein bisschen mit der britischen Mediengeschichte auskennt, muss die unsagbare, pure Chuzpe der Mail fast schon bewundern: Schließlich ist die Geschichte dieser Zeitung selbst nicht ohne schwarze, nein große, fette braune Flecken.

Sie war vor dem Zweiten Weltkrieg das Kampfblatt der britischen Faschisten - die Zeitung, die die Machtübernahme der Nazis in Deutschland 1933 in einem Leitartikel mit der Überschrift "Youth Triumphant" bejubelte.

Als ich am Dienstagmorgen im Radio die Meldung hörte, dass die Daily Mail vollinhaltlich hinter ihrer ursprünglichen Geschichte stehe, konnte ich mir also einen spontanen Tweet nicht verkneifen:

"I hear the Daily Mail is standing by every word of its original story", illustriert mit einer schnell aus dem Netz gefischten Kopie des berühmten pro-faschistischen Daily Mail-Aufmachers "Hurrah for the Blackshirts" aus dem Jahr 1936 (die Schwarzhemden waren die paramilitärische Organisation des britischen Faschisten Oswald Mosley).
Autor der Story war Viscount Rothermere, Herausgeber der Zeitung und persönlicher Freund von Hitler und Mussolini.

Mail: "Hurrah for the Blackshirts"

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Innerhalb von Sekunden begann mein Telefon brummend auf dem Küchentisch zu tanzen, erst 382 Retweets später hörte es wieder auf. Der Tweet hatte offenbar einen Nerv getroffen.

Aber bevor ich mir hier was vormache: Wie eingangs erwähnt, ist das Internet ein seltsames Tier.

Ein anderes, meiner bescheidenen Meinung nach mindestens so vielsagendes Facsimile, das ich (wie einige andere auch) am selben Nachmittag veröffentlichte, brachte es nämlich auf bloß einen einzigen Retweet: "German Jews Pouring Into This Country", war im Jahr 1938 in der Daily Mail zu lesen, eingeleitet vom Zitat eines Londoner Magistrats, "Die Art und Weise, in der staatenlose Juden durch all unsere Häfen ins Land herein strömen, ist empörend."

Mail: "German Jews Pouring Into This Country"

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Selbst unter dem Eindruck des beginnenden Massenmordes an den deutschen Juden hatte die Daily Mail die Linie ihres Herausgebers, der in einem anderen Artikel die Greueltaten der Nazis als "vereinzelte Gewaltakte" verharmlost hatte, also noch nicht geändert.

75 Jahre später sollte dieselbe Zeitung einem jener Juden, die damals vor der Mordsmaschine der Nazis flüchteten, posthum vorwerfen, er habe im Krieg vielleicht "nicht so sehr für Britannien, sondern wie die Sowjetunion auch gegen die Nazis gekämpft."
Nur gegen die Nazis zu kämpfen, während seine Verwandten und Freunde auf dem Kontinent in KZs umgebracht wurden, war offenbar nicht patriotisch genug.

Ralph Miliband kann sich gegen all das nicht mehr wehren, und die Richtigstellungen seines Biographen Michael Newman, aus dessen Buch "Ralph Miliband and the Politics of the New Left" die Mail sich das vermeintlich anti-britische Tagebuchzitat geborgte hatte, erreichten auch bloß das bereits bekehrte Publikum der Guardian-LeserInnenschaft.

Aber immerhin brachte die schiere Schamlosigkeit der von der Mail betriebenen Kombination aus Dämonisierung eines Toten und Sippenhaftung für seinen Hinterbliebenen sowohl Premier David Cameron als auch dessen liberaldemokratischen Vize Nick Clegg dazu, ihr Mitgefühl für Ed Milibands Entrüstung auszudrücken.

Während der Daily Mail-Kolumnist Stephen Glover am Donnerstag mit der Behauptung, der öffentliche Protest des Labour-Chefs gegen die Verunglimpfung seines Vaters sei "kalkulierte Hysterie", der Geschichte noch eine Drehung zu geben versuchte, hatte das verschwisterte Sonntagsblatt des Verlags schon den nächsten Fehltritt verübt:

Eine Reporterin der Mail on Sunday hatte sich im Londoner Guy's Hospital in eine private Gedenkveranstaltung für einen kürzlich verstorbenen Onkel Ed Milibands geschmuggelt, um den dort versammelten Familienmitgliedern noch ein paar Kommentare zu Ralph und Ed zu entlocken.

Es war diese offensichtliche Unverschämtheit, für die sich der Eigentümer Lord Rothermere, Urenkel des oben erwähnten Viscount Rothermere, Eigentümer der Daily Mail und enger Vertrauter David Camerons, schließlich am Freitag entschuldigen musste (im Unterschied zum für seine cholerischen Ausbrüche berüchtigten Chefredakteur Paul Dacre, der sich bislang jedem Kommentar zur Affäre entzogen hat).

In der Zwischenzeit sind jede Menge kluge Kommentare zum Fall Mail versus Miliband geschrieben worden, unter anderem jener von Jonathan Freedland, der im Jewish Chronicle die gegen Ralph und Ed Miliband gerichteten, mit alttestamentarischen Metaphern und dämonisierendem Vokabular gewürzten Anwürfe der Mail auf antisemitische Untertöne untersuchte (ein Vorwurf, für den die Mail jetzt ihrerseits nach einer Entschuldigung verlangt).

Doch der Antisemitismus-Aspekt (der - soviel sei festgestellt - einmal grundsätzlich nicht dadurch zu widerlegen ist, dass der Autor der ursprünglichen Story selbst Jude ist) greift ohnehin zu kurz. Er ist nur eine von vielen mitschwingenden Resonanzen sich überschneidender Phobien:

Im Kern der an Juden genauso wie alle irgendwie Anderen gerichteten Forderung nach einem besonderen Loyalitätsbeweis (vgl. den vom konservativen Rechtsaußen Norman Tebbit 1990 formulierten, berüchtigten Cricket Test) steckt ein simpler xenophober Reflex.

Dazu gesellt sich die notorische Intellektuellenfeindlichkeit des britischen Spießertums. Mit sprachlich spitzen Fingern wird Ralph Miliband beharrlich abstrakt als "academic" bezeichnet, so als wäre geistige Tätigkeit allein schon verdächtig. Was machte diese eigenartige Familie in Primrose Hill? Debattieren, diskutieren, das System und seine Institutionen in Frage stellen? Ist sowas anständig? Schließlich, meinte der Mail-Journalist Alex Brummer heute in den Morgennachrichten, habe Ralph Miliband bis 1968 die Sowjetunion unterstützt. All das müsse die Familie also "rund um den Frühstückstisch" besprochen haben.

Tatsächlich war Miliband Senior weder Leninist, noch je Mitglied der Kommunistischen Partei, sehr wohl aber ein lautstarker Opponent des Stalinismus.
Und Ed Miliband wurde erst 1969 geboren, verbrachte vor '68 also wenig Zeit an Frühstückstischen (bei Erscheinen dieses antistalinistischen Texts seines Vaters war er zum Beispiel gerade vier).

All das spielt keine Rolle in der Logik einer McCarthyesken Paranoia, die jeden Zweifel an der kapitalistisch/monarchistischen Gesellschaftsordnung als grundsätzlich unbritisch interpretiert (treffend dazu dieser Text von Priyamvada Gopal).

Tory-Granden wie das Kabinettsmitglied Francis Maude, der Veteran Michael Heseltine oder Thatcher-Biograph Charles Moore haben die Daily Mail inzwischen überraschend scharf kritisiert. Der allgemeine Konsens ist, dass die Zeitung sich mit ihrer Hetzkampagne selbst in den Fuß geschossen hat.

Aber ich bin mir da nicht ganz so sicher. Was sich nämlich in den Köpfen festgesetzt haben wird, wenn der Sturm sich einmal verzogen hat, ist die bizarre Umdeutung des Marxismus in eine bösartige Verschwörung gegen die Pressefreiheit (tatsächlich wetterte Marx 1842 in der Rheinischen Zeitung leidenschaftlich gegen jede Zensur) bzw. die Desavouierung jeder Art von sozialistischer Idee als Expresszug Richtung Stalinismus.

Und das spielt eine Rolle, da Ed Miliband in Zeiten der wachsenden Unzufriedenheit mit dem politischen Konsens von Privatisierung und Sozialabbau gerade erst begonnen hatte, das Wort "Sozialismus" wieder offen in den Mund zu nehmen.

Ed Miliband mag durch die Attacke der Daily Mail an Sympathien gewonnen haben. Aber sie zwingt ihn auch, künftig in seinen Äußerungen wieder vorsichtiger zu sein; jeden Eindruck zu vermeiden, er arbeite an einer "marxistischen" Unterwanderung des Systems.

Wenn der Labour-Chef nun wieder zu jener roboterstarren Verschrecktheit zurückkehrt, die er gerade erst abzulegen begonnen hatte, hat die Verleumdung seines Vaters ihren Zweck erfüllt. Und der Mainstream-Konsens dieses Landes ist wieder ein gutes Stück nach rechts gerückt.