Erstellt am: 5. 7. 2013 - 11:59 Uhr
Tag des Schamhaars

Radio FM4/Alex Wagner
Tim R. Zazzara hat 2012 den FM4 Kurzgeschichten-Wettbewerb Wortlaut gewonnen. Er liest im Rahmenprogramm zum Ingeborg-Bachmann-Preis aus seiner Kurzgeschichte "Milch".
Wir wissen alle, dass die Tage der deutschsprachigen Literatur am Besten morgen abgeschafft werden. Denn in der Literatur soll es schließlich um Texte gehen, nicht um die multimediale Inszenierung der Autoren. Das wissen wir und wir wissen, dass es völlig richtig ist, wenn die dieses Jahr antretende Katja Petrowskaja in ihrem Vorstellfilmchen (Die Vorstellfilmchen! Dazu gleich mehr) fragt, was ihre Person eigentlich zur Sache tut. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass Uwe Tellkamp völlig Recht hat, wenn er sagt, dass Literatur nun mal Aufmerksamkeit braucht. Mit dieser hybriden Stimmung, die irgendwie kennzeichnend ist für die Tage der deutschsprachigen Literatur und sie schon seit Ewigkeiten zu begleiten scheint, machen wir uns auf den Weg ins Studio, wo heute die Lesungen beginnen. Gespannt sind wir auf die Autoren, richtig gespannt auf die Texte, denn um die geht es ja.
Tim R. Zazzara
Um neun Uhr hat sich vor dem Saal bereits eine kleine Schlange gebildet. Der harte Kern, der unbedingt rein will. Um kurz vor halb zehn hat die Schlange schon das Ausmaß einer Schleckerschlange beim finalen Rausverkauf angenommen. Als der Saal geöffnet wird, ergattere ich trotzdem einen Platz ganz vorne. Unverschämt früh da sein (und alle körperlichen Bedürfnisse wie Frühstück hintanstellen) lohnt sich eben.
Bachmannpreis 2013
Bis 7. Juli finden in Klagenfurt die Tage der deutschsprachigen Literatur statt. Eine Reihe Veranstaltungen und Lesungen werden online und auf 3sat übertragen, fünf Preise werden vergeben, darunter der renommierte Namensstifter.
Der Grundton des Studios ist himmelblau. An der Wand eine aufgemalte Ingeborg neben einem Alphabet, das aus einer Schachtel geflogen kommt, auf den Bildschirmen nochmal die Dichterin und ein buntes, ewig umblätterndes Buch. Bei der Live-Sendung ist man im Grunde weiter weg von den Kandidaten als der Fernsehzuschauer. Wie auf den Telescreens zu verfolgen ist, zoomen die Kameras nämlich porentief an die Lesenden heran. Dafür hat man im Studio dieses Beifahrerfeeling, dieses entsetzliche Gefühl, dass man etwas tun muss, wenn eine Geschichte, die man mag, völlig zu Unrecht verrissen wird, oder wenn die Autoren mit einem langweiligen Text zu gnädig umgehen, dass man jetzt klatschen muss, um die Stimmung zu beeinflussen, oder sofort vom Platz aufspringen und reinrufen. Was man natürlich nicht tut.
Als erste liest Larissa Boehning, die Autorin mit dem sympathischsten Vorstellclip bei diesem Wettbewerb. In dem Text geht es um eine reiche, kranke Dame, die ihr Hamburger Haus im Stil ihrer bayerischen Heimat dekoriert hat, und um einen Erbschleicher, der ihr zugleich Sohnersatz und Liebhaber ist. Ein sehr interessanter Text und schöner Auftakt für das Wettlesen. Die Jury findet den Text insgesamt sehr "well-made", ist aber nicht restlos überzeugt. Die Mutter-Sohn-Beziehung zu inszeniert ödipal für die einen (Strigl), der Ton zu betulich angesichts des untergründig Unheimlichen für die anderen (Keller). Der Begriff "Kapitalismuskritik" fällt lobend.
Nach Boehning erleben wir einen kraftstrotzenden Joachim Meyerhoff, der vom Klau eines Fotobandes erzählt - der mit Abstand lustigste, aber sicher nicht interessanteste Text des Tages. Die Jury lobt den Witz, lobt das rasante Tempo und fängt dann an, in den Text psychoanalytisch mehr reinzulesen, als vermutlich drin ist. Am Ende die recht einhellige Meinung: Was nicht gefällt, sei das Anekdotische und der erbaulich anmutende Schluss. Manch ein Blogger kolportiert im Anschluss an die Lesung: "Publikumspreis". (Total subjektiver Meinungsmodus an: "Ich hoffe mal, dass nicht.")
Tim R. Zazzara
Kommen wir zu Nadine Kegele. Ein schwieriger Text über Kinderlosigkeit mit vielen losen Enden, der mir den Eindruck vermittelt, zu dumm für Klagenfurt zu sein. Ich beruhige mich erst, als ich erfahre, dass es der Jury ähnlich ging. Das mag auch daran liegen, dass der Text ein Auszug aus was Längerem ist. Den Grundtenor der Jurykritik bringt Winkels auf den Punkt, als er sagt, dass der Text uns zu "Spurenlesern im Ungewissen" macht. Strigl ist die einzige, die bewundernswert hartnäckig gegen die Mehrheitsmeinung hält. Angesichts eines in den bisherigen Texten prominenten Motivs prägt sie auch gleich das Motto des Tages: Heute ist der Tag des Schamhaars. Na, dann.
Das wird bei Verena Güntner gleich bestätigt. Nach ihrem Vorstellfilmchen, das ohne Worte auskommt und in dem man Sperma (oder Sperma-ähnliche Flüssigkeit) eine Wand hinunterlaufen sieht, fällt die Schambehaarung auch in ihrem Text. Wer sich jetzt aber einen durch und durch pornösen Text erhofft, wird enttäuscht. Stattdessen das feinfühlige Portrait eines heranwachsenden Jungen, der davon besessen ist, in seinen Körper hineinzuschauen, und nebenbei seine ersten amourösen Erfahrungen macht. Vom Großteil der Jury hagelt es Lob wie für keinen anderen Text heute, der Ton eines Sechzehnjährigen sei wunderbar getroffen etc. Spinnen hält dagegen. So eine Geschichte hätten wir schon hundert Mal gelesen. Schließlich könne es nicht nur darum gehen, aus der Sicht eines männlichen Jugendlichen zu erzählen, einfach nur, um zu zeigen, dass man das kann. Kunst müsse mehr wollen. Ein unterhaltsamer Streit entspinnt sich und Keller hält (sehr kurzsichtig) dagegen, dass Kunst im Laufe der Menschheitsgeschichte lange Zeit als reine Kunstfertigkeit angesehen wurde, warum es also nicht reicht, wenn ein Text nur kunstfertig ist? Man möchte sie fast zur Seite ziehen und ihr zeigen, wie kunstfertig (nämlich sehr!) ein Harry-Potter-Band geplottet ist. Ob sie solche Literatur auch in Klagenfurt würde hören wollen?
Als letztes liest Anousch Mueller. Deren Text über einen missgeglückten Skandinavienurlaub samt Trennung wird mehr oder weniger verrissen: zu drastisch, zu einseitig aus der Opferperspektive der leidenden Frau erzählt, der souveräne Erzählduktus passe nicht zu den Krisen der Erzählenden. Ein unaufmerksamer Zuhörer hört nur "souverän" und klatscht aufmunternd, obwohl es ja als Kritik gemeint war, nicht als Lob.
Damit endet der erste Tag. Die Luft flimmert über der Stadt, die Sonne macht, was sie am Besten kann, nämlich Licht und Hitze. Die allgemeine Abschiedsformel lautet: "Viel Spaß am See!" Ich bin müde, aber nach diesem Marathon so literaturgeil, dass ich im Hotel gleich meine Bücher auspacke. Nur eine Entscheidung steht heute noch bevor: Philip Roth oder Nabokov? Die schwerste Entscheidung von allen.