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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

6. 6. 2013 - 18:34

vien]noise[ries

Wiener Improv trifft im Café Oto in Dalston auf Londoner Improv. Ein Genre-Ahnungsloser stört mit Blechdosengeräuschen.

Ich werde nicht lügen, ich bediene mich hier des klassischen musikjournalistischen Manövers der Flucht nach vorne: Wenn man von einem Genre keine Ahnung hat, bekennt man es am besten gleich. Immer noch anständiger und besser als den Generalisten zu mimen, sich in risikolosem Genie-Kult zu üben und dem eh schon gültigen Kanon hinterher zu schwurbeln.

Improv also, muss ich geben, ist mir ein spanisches Dorf. Was nicht heißen soll, dass man dort nicht einmal einparken und naiv fragen könnte, wo eigentlich all der köstliche Jamon herkommt, wenn man doch nirgendwo Schweine sieht (Ich verspreche, diese Metapher nicht weiter zu verfolgen).

Ich will also über viennoiseries im Café Oto in Dalston, London.

Robert Rotifer

Die letzte Begegnung des Abends ähnelt am ehesten einer konventionellen Band-Besetzung: Martin Siewert an der Gitarre, Pete Marsh am Bass, Paul May an Schlagzeug und Percussion und Alan Wilkinson am Saxophon. Ich kann nicht anders als daran denken, wie ich Siewert, der heute unter anderem bei Radian spielt, vor 23 oder 24 Jahren kennenlernte: Als endlos gutmütigen, hyperbegabten Retro-Hippie im bestickten Leinenhemd, der schon mit 16 die erstaunlichsten, ebenso flotten wie ungewöhnlich säuberlichen Soli zu „Let's Work Together“ spielte. In unserer namenlosen, gemeinsamen Band probten wir wöchentlich 20-minütige Psychedelik-Suiten, die wir aber nie live vorführten, unter anderem, weil unser Schlagzeuger in der süßlich stickigen Proberaumluft seine Parts zu vergessen pflegte.

Jetzt sitzt derselbe Siewert als etwas breiter gewordener Mann in seinen besten Jahren vor einem Tisch voller Effektgeräte und streicht sich nachdenklich am Vollbart, bis ihn eine Idee befällt, und er einmal saubere terzenlose Akkorde, dann kratziges Gezirpe, dann wieder zornige Cluster aus seiner Gitarre holt, geschäftig an Knöpfen dreht und Pedale tritt. Irgendwann kann Marsh dann doch nicht anders und beginnt mit fast bis zur Tonlosigkeit abgedämpften Saiten so etwas wie einen Groove zu erzeugen, auf den Wilkinson und Siewert mit sich hysterisch steigernden Tonkaskaden reagieren. Keine Ahnung, woher sie wissen, wann sie aufhören müssen, aber es ist genau der richtige Zeitpunkt.

Erstens weil spürbar alles gesagt ist, und zweitens, weil ich gerade noch meinen letzten Zug erwische.

Heute (Donnerstag) Abend spielen vien]noise[ries live auf dem Radiosender ResonanceFM, Freitag im Cowley Club in Brighton und Samstag in der Londoner Rag Factory.