Erstellt am: 24. 4. 2013 - 17:06 Uhr
Die Absturzursachen des EU-Flugdatensystems
"Im Ausschuss haben wir uns heute viel Arbeit erspart. Statt 40 Seiten Absatz für Absatz abzustimmen, haben wir nur einmal abgestimmt und das Vorhaben als Ganzes abgelehnt", sagte der EU Parlamentarierer Jörg Leichtfried (SPE) am Mittwoch zu ORF.at. Mit 30 zu 25 Stimmen hatte der Innenausschuss des europäischen Parlaments die geplante Richtlinie zur Erfassung und dauerhaften Speicherung aller ein- und ausreiѕenden Flugpassagiere abgelehnt.

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Damit wird der Richtlinienentwurf nicht wie vorgesehen ins Plenum des Parlaments kommen, sondern an die Kommission zurückverwiesen, Berichterstatter Timothy Kirkhope (ECR Rechtskonservative) musste das vollständige Scheitern seines Berichts im Anschluss eingestehen. Die Abgeordneten der EVP sowie die davon abgespaltene Rechtsfraktion ECR - die von den britischen Konservativen angeführt wird - blieben als Befürworter unter sich.
Erfreut und teils auch überrascht über das eindeutige Ergebnis zeigten sich andere österreichische Abgeordnete wie Eva Lichtenberger (Grüne) oder Martin Ehrenhauser (fraktionslos), beide Abkommensgegner der ersten Stunde.
Der Faktor Lissabonvertrag
Die geplante Vorratsdatenspeicherung der Flugverkehrsdaten - wer wann wohin geflogen ist - auf europäischer Ebene ist damit vorderhand einmal gescheitert. Nach ACTA ist das nun bereits das zweite Großvorhaben zur Überwachung, das vom Parlament binnen weniger Monate abgeschmettert wurde.
Ein Hauptgrund dafür ist der Vertrag von Lissabon, der dem EU-Parlament weitaus mehr Kompetenzen eingeräumt hatte. Von der Vorratsdatenspeicherung angefangen waren nämlich alle derartigen Initiativen zur Ausweitung der Überwachung nicht aus dem Parlament, sondern aus dem Ministerrat gekommen.
Das sind nun einmal die nationalen Minister aus den Mitgliedѕsstaaten, die im Ministerrat nationale Interessen vertreten. Regelmäßig wird der Ministerrat dazu benutzt, um Vorhaben voranzutreiben, mit denen man bereits im eigenen Parlament gescheitert ist.
Prototypisch steht dafür die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, die 1999 unter Premierminister Tony Blair im britischen Unterhaus keine Mehrheit gefunden hatte. In Folge wurde sie über den EU-Ministerrat ins Parlament gebracht und durchgesetzt. Im Moment läuft ein fast identischer Versuch, dasselbe nun mit der geplanten Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung zu wiederholen.
Der Faktor Lobbying
Einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Faktor stellt der in Brüssel allgegenwärtige Lobbyismus dar. Der scheint nicht nur zunehmend schlechter zu funktionieren, sondern immer öfter nach hinten loszugehen.
Auch diesmal waren die Gänge und Vorhallen des Parlaments in Brüssel wieder voll mit Personen, die mit gewählten Worten die unbedingte Notwendigkeit der Speicherung von Flugpassagierdaten schilderten, wolle Europa nicht im Terrorchaos versinken. Dann kamen die immer gleichen "Fallbeispiele" für die Erfolge des Systems - stets unter spezieller Erwähnung von Kinderpornografie - die allesamt gemeinsam haben, dass Namen, Zahlen, Orte sowie die beteiligten Behörden fehlen.
Tsarnaev und Zarnajew

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Namen, Daten, Fakten und Belege gibt es hingegen dafür, wann das von den USA seit zehn Jahren betriebene Überwachungssystem nicht funktioniert hat. Der letzte bekannt gewordene Fall betrifft einen Mann, dessen Name im englischen Sprachraum "Tamerlan Tsarnaev" im deutschen jedoch "Tamerlan Zarnajew" transkribiert wird. Der flog ab 2011 ungeachtet aller Passagierprofile, automatischen Systemalarme bei Reisenden in Risikoregionen und "No-Fly-Lists" mehrmals nach Dagestan.
In dieser russischen Republik und in den umliegenden Regionen - Tschetschenien, Georgien, Ossetien - schwelen mehrere unterdrückte Bürgerkriege unter maßgeblicher Beteiligung radikaler Islamisten. Obendrein waren die US-Behörden längst vorgewarnt.
Kyrillische Transkripte
Die Information waren bereits 2011 von russischen Geheimdiensten gekommen, die gewarnt hatten, dass dieser Mann Kontakt zu radikalen Gruppen aufgenommen hatte. Die Russen hatten Tsarnaev/Zarnajew auf eine andere Weise aus dem Kyrillischen transkribiert, deshalb war er in den Datenbanken mit den "Passenger Name Records" auch nicht gefunden worden.
Ebenso hatte der letzte, kläglich gescheiterte "Unterhosenbomber" unbehelligt einen Flieger in die USA besteigen können, obwohl sein eigener Vater die US-Botschaft vor Ort gewarnt hatte. Während es sich in beiden Fällen um überprüfte Fälle handelt, fehlen Erfolgsmeldungen über gefasste Terroristen völlig. Es gibt keinen einzigen solchen Fall, der in ähnlicher Datenqualität bekannt und damit überprüfbar geworden ist.
Falsch programmierte Alarme
Trotz permanenter Rasterfahndung in den hunderten Millionen von individuellen Profilen - Reise- und Essgewohnheiten, Ѕitznachbarn usw. - die sich von allen Ein- und Ausgereisten inzwischen angesammelt haben, warf das System keine Warnung aus. Der Systemalarm war auf einen "falschen" - weil abweichend transkribierten - Namen programmiert.
Diese grundlegende Schwäche eines derartigen Systems erstreckt sich auf sämtliche Namenstranskriptionen, die schon bei der Dateneingabe unterschiedlich erfolgen. Die Eingabe des jeweiligen "Passenger Name Record" wird je nach Buchungsart, von Reisebüros vor Ort, Angestellen von Fluglinien oder den Passagieren selbst durchgeführt.
Im April 2011 hatte der EU-Ministerrat einen Beschluss zur Einführung eines solchen PNR-Systems zur Erfassung von Flugpassagierdaten gefasst, der erst im Juni 2011 an die Öffentlichkeit kam. Kleine Chronik der Entwicklung in zwölf Stories
Transatlantische Kontraste
Namen aus dem arabischen Sprachraum beispielsweise werden so praktisch niemals nach einem einheitlichen Muster transkribiert. Das gesamte PNR-System hat also einen grundlegenden Design-Fehler, weil es dort, wo der islamistisch geprägte Terrorismus herkommt, am schlechtesten bis gar nicht funktioniert.
Bei den Anhörungen im US-Kongress am Dienstag gab es nur Widersprüchliches dazu. Innenminister Janet Napolitano sagte, das FBI hätte sehr wohl von der Reisetätigkeit Tsarnajews gewusst und darauf reagiert, aber nichts gefunden. Der republikanische Senator Lindsey Graham schlug vor, die US-Gesetze zum Schutz der Privatsphäre zu ändern - also ganz aufzuheben - und das Internet stärker zu überwachen.
Erst im Kontrast dazu ist die heutige Entscheidung des EU-Parlaments in ihrer ganzen Tragweite und Rationalität zu sehen.