Erstellt am: 17. 4. 2013 - 16:05 Uhr
Ein Sarg fährt durch London
Wir hatten hier doch familienintern ausgemacht, dass der Fernseher heute kalt bleibt.
Um ehrlich zu sein, hat Thatchers Ableben in diesem Haushalt überhaupt zu einer Cold Turkey-Kur für mein News-Junkie-Dasein geführt.
Die kreativen Neuinterpretationen ihres politischen Nachlasses und die endlosen Elogien wurden irgendwann einfach zuviel, irgendwann sind dann die Nachrichten nur mehr so lästig wie die Typen in der Schule, die einen durchs Blasrohr mit speichelbefeuchteten Papierkügelchen zu beschießen pflegten. Mit dem Unterschied, dass man sie abdrehen kann.
Liebe Ute, unsere Internet-Redakteurin, ich habe aus lauter Pflichtbewusstsein vorhin den Stream der BBC und daneben meinen Twitter-Stream laufen lassen, und selbst wenn ich es dir versprochen habe, ich will an beidem nicht teilhaben.
Nicht an der Totenfeier, zu der es wenig zu sagen gibt, außer dass niemand so gut Zeremoniell dieser Art inszeniert wie die Briten.
Und nicht am sarkastischen Kommentar jener masochistischen Thatcher-Gegner, die sich selber hassen, weil sie das Zuschauen nicht lassen können und nach einer Träne in George Osbornes Augen suchen oder einander zum x-ten Mal vorrechnen, was man alles anderes um dasselbe Geld bezahlen hätte können (der von Thatcher selbst als Wurzel allen Übels angesehene Staat hat zehn Millionen Pfund zu diesem Eigentlich-Nicht-Staats-Begräbnis zugeschossen).
Sie haben ja Recht, dieses Begräbnis findet just in einer Woche statt, wo die Erben Thatchers in Form der konservativ-liberalen Regierung unter dem sensationell zynischen Slogan „Wir sorgen dafür, dass Arbeit sich auszahlt“ ("We'll make work pay!“) eine neue Obergrenze für Sozialhilfe als Anreiz zum Arbeitssuchen eingeführt haben. So als wären die derzeit 2,56 Millionen Arbeitslosen (in den ersten Monaten von 2013 ist diese Zahl um 70,000 gestiegen, noch nicht ganz die drei Millionen, die unter Thatcher erreicht wurden) alle bloß arbeitsscheu und als wäre nicht die Mehrheit der Sozialhilfe-BezieherInnen sowieso beschäftigt aber eben unterbezahlt und daher Teil der Working Poor.
Erst zwei Wochen ist es indessen her, dass der Höchststeuer-Satz für die Reichsten des Landes von 50 auf 45 Prozent gesenkt wurde (unter Thatcher übrigens heute kaum mehr vorstellbare 60%, erst gegen Ende ihrer Amtszeit 1988 auf 40% gesenkt).
Aber mein Instinkt sagt mir trotzdem, dass die Versuchung, den Protest gegen all das mit dem Thatcher-Begräbnis in Verbindung zu bringen, auch die Gefahr birgt, sehr ernste politische Anliegen als Munition in einem bald vergessenen Scheingefecht zu verpulvern.
Und ja, auch die mittelwitzige Idee, „Ding Dong – The Witch Is Dead“ aus dem Wizard of Oz in die Charts einzukaufen, wird wohl kaum in die Liste der großen Triumphe der Popkultur eingehen.
Im heutigen Guardian meint Seumas Milne, Thatchers Fanclub habe die Glorifizierung zu weit getrieben und damit einen Backlash hervorgerufen.
Das kann gut sein. Man darf nicht vergessen, dass sich David Cameron zu Zeiten seiner größten Popularität im tiefsten Umfragentief der Ära Brown vor ca. vier Jahren große Mühe gab, nicht mit Thatcher in Verbindung gebracht zu werden. Jetzt als ihr gelehriger Schüler dazusitzen, wird ihm auch nicht gerade nützen bei jenen, die ihm bei den letzten Unterhauswahlen sein Märchen von der Modernisierung der Tories samt grünem Bäumchen als neues Parteilogo (statt der rot-weiß-blauen Fackel) abnahmen.
Wenn es stimmt, dass 60 Prozent der Bevölkerung die (Teil-)Finanzierung dieses Begräbnisses durch die öffentliche Hand abgelehnt haben, dann hat das wohl auch damit zu tun, dass Thatcher an Stimmen (nicht Parlamentssitzen) eben nie auch nur annähernd eine absolute Mehrheit erreichte.
Es zeigt aber auch ein wachsendes Bewusstsein der unter Thatcher begonnenen, von sämtlichen britischen Regierungen seither fortgesetzten Politik der Privatisierung aller Profite und Verstaatlichung aller Kosten.
Was jedoch die Entrüstung über das von Milne und vielen anderen als absoluter Affront identifizierte Stillstehen der Glocken von Big Ben zum Begräbnis Thatchers angeht, berührt mich das ehrlich gesagt genauso wenig wie eine Krokodilsträne am Gesicht George Osbornes.
Ich kann mich ja sehr wohl an einen anderen Anlass außer dem Churchill-Begräbnis erinnern, da die Glocken schwiegen: Vor ein paar Jahren, als wochenlang der Mechanismus überholt wurde, der die Glocken steuert.
Was heute geschah, kann ganz genauso als Routine-Wartungsarbeit an den Mühlen des britischen Establishments betrachtet werden. Der Fuhrpark wurde quer durch die Stadt geführt, die korrekte Begräbniskleidung abgestaubt, Pomp und Gloria abgespult wie seit hunderten Jahren der Brauch.
Sicher, dass Thatchers verhätschelter, krimineller Sohn Sir Mark als undurchsichtiger Waffenhändler und verurteilter Putschist mit Hang zum Steuerparadies und engen Verbindungen zu zwielichtigen Söldnern (seine Biographie ist lesenswert) sich bei diesem Anlass einfach so als Ehrenmann darstellen kann, ist moralisch untragbar, aber gerade in dieser Hinsicht historisch gesehen vollkommen normal.
Wenn überhaupt, dient das Auftauchen dieser so oft vergessenen Figuren in einem Raum mit David Cameron und Tony Blair zur Erinnerung daran, womit man in diesem Land davon kommen kann, wenn man sich in der richtigen Gesellschaft herumtreibt. Man liest Morrisseys Aufsatz und fragt sich, woher die Verwunderung (und warum die Übertreibung: dass der Guardian „steadfast“ die Thatcher-GegnerInnen ignoriere, ist einfach nicht wahr).
Und falls tatsächlich – wie kolportiert – der Buckingham Palace über den beinahe königlichen Aufwand dieses Begräbnisses irritiert gewesen sein sollte, dann kann die Königin sich damit trösten. Sie wird es zwar nicht erleben, aber zu ihrem Gedenken werden wohl wesentlich mehr Leute erscheinen als zu diesem. Ohne Massen – und richtige Massen waren das wohl nicht – ist die schönste Kanonisierung nichts wert.
Robert Rotifer
Im Endeffekt waren es die mit Einsetzen des Thatcher-Tribut-Overkills merklich gesunkenen Einschaltquoten der britischen Nachrichtenkanäle und die Gedenkbeilage der Times (siehe Bild), die mein Sitznachbar im Zug gerade demonstrativ liegen gelassen hat, die eine härtere Sprache sprachen als tausend gewitzte, gelegenheitslinke Tweets.
A propos Twitter: Keine Bilder von Thatcher Death Parties hatten auf mich dieselbe Wirkung wie dieses aus dem Stadtzentrum von Leeds getweetete Bild, das sehr schön den Unterschied zwischen Thatchers Stellenwert in den konservativen Shires des Südens und der Londoner City und ihrem Ruf im Rest des Landes darstellt.

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Also. Es tut mir leid, Ute.
Es gab einfach nichts zu berichten.