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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

8. 4. 2013 - 16:51

The Day That Thatcher Dies

Wir alle leben heute in Margaret Thatchers Welt, ob wir wollen oder nicht.

Ihre Wahl im Jahr 1979 hatte politische Konsequenzen, die bis heute anhalten: Die Etablierung des neoliberalen Modells als die Mainstream-Ideologie des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, das Schrumpfen des Staats, die Entmachtung der britischen Gewerkschaftsbewegung, die Deindustrialisierung Großbritanniens, die völlige Entfesselung des Finanzsektors, die Transformation der britischen Konservativen und infolgedessen so vieler anderer traditioneller Mitte-Rechts-Parteien Europas zu aggressiven Plattformen radikaler (seither von weiten Teilen der Sozialdemokratie adoptierter) Privatisierungsprogramme.

Als Tochter eines Lebensmittelhändlers durchbrach Margaret Thatcher innerhalb der Tories das Establishment der alten aristokratischen Familien und machte ihre Partei zur Stimme des aufsteigenden Kleinbürgertums. Selbst Teile des hartnäckigen britischen Proletariats lockte sie mit Ideen wie dem „right to buy“ - dem Recht, seiner Stadtverwaltung die eigene Gemeindewohnung um einen Diskontpreis abzukaufen – auf die Seite ihrer neokonservativen Revolution.

Margret Thatcher

PA/Johnny Green/jg/kr

Thatcher im Jahr 2000

Wie sie dagegen mit der organisierten Working Class umzugehen wusste, zeigte die gewaltsame Niederschlagung des großen Minenarbeiterstreiks Mitte der Achtziger Jahre.

Eine der größten Ironien der Thatcher-Ära bleibt, dass sie 1975 für den Beitritt Großbritanniens zum EU-Vorgänger EEC Wahlwerbung machte, sich in den Achtziger Jahren mit rabiat anti-europäischer Politik profilierte und dabei doch wie keine andere Politikerin den politischen Konsens Europas definierte.

Mit dem Big Bang in der Londoner City exerzierte sie 1986 jene große Bankenderegulierung vor, die 2008 zum großen Kollaps des Finanzsystems führen sollte.

Aber auch das heute als Gegenmittel zur daraus folgenden Krise angewandte Rezept der Austerität wurde in Großbritannien bereits in ihrer Regierungszeit durchgespielt, mitsamt den jetzt in Europas Krisenländern wieder zu beobachtenden Konsequenzen in Form von Massenarbeitslosigkeit, sozialem Elend und wachsenden sozialen Gegensätzen.

Nicht vergessen darf man dabei, dass Thatcher 1983 nach ihrer ersten Amtszeit ohne den patriotischen Schub des Falkland-Kriegs sicher nicht wiedergewählt worden wäre. Die Atomisierung der Gesellschaft als Voraussetzung für die seither vollzogene Popularisierung einer Politik sozialer Härte war zu jener Zeit noch nicht so weit fortgeschritten.

Man kann von Margaret Thatcher halten, was man will. Sie hat gewonnen. Und für GewInnerinnen wird die Geschichte gern zurecht geschrieben.

In den letzten Jahren hat, insbesondere rund um den Meryl Streep-Film The Iron Lady, eine Umdeutung Thatchers als Vorkämpferin eines grotesk entsolidarisierten Feminismus-Begriffs stattgefunden.

Dazu lohnt sich anzumerken, dass Margaret Thatcher sich in ihren Kabinetten ausschließlich mit Männern umgab und den Feminismus selbst als „Gift“ bezeichnete.
Nelson Mandela, der sie nun überlebt hat, bezeichnete sie als „Terrorist“, den mörderischen chilenischen Diktator Pinochet (der sich von einem ihrer Lieblingsökonomen, Milton Friedman, beraten hatte lassen) dagegen als einen „wahren Freund.“
Der Spruch, mit dem sie selbst ihre Philosophie am markantesten zusammenfasste, bleibt aber:

„There is no such thing as society“

“Sowas wie eine Gesellschaft gibt es nicht.“

In diesem Satz, der genauso gut aus einem Sex Pistols-Song stammen könnte, spiegelt sich das größte Paradoxon des Phänomens Maggie Thatcher wieder:
Ihr radikaler Individualismus, der materiellen Eigennutz ins Zentrum der menschlichen Existenz stellte, hatte jenen libertären Geist der Endsechziger bis Mittsiebziger, den sie selbst so verachtete, zur Voraussetzung.
Nicht wenige zu Geld gekommene alte Hippies fanden sich in den Achtziger Jahren im niedrige Steuern und so wenige gesellschaftliche Pflichten wie möglich versprechenden Lager Thatchers wieder.
Das in den Bankentürmen der City praktizierte Bereicherungs-Modell des Thatcherschen Lebensentwurfs sah dem Selbstverständnis des verantwortungslosen Rockstars ziemlich ähnlich.

Margret Thatcher

EPA FILES

In meiner heutigen Ausgabe von FM4 Heartbeat werde ich ab 22 Uhr nicht nur, aber auch Songs über Margaret Thatcher spielen. Nebst einem Interview mit dem wunderbaren Harper Simon. Das ebenfalls geplante Edwyn Collins-Interview wird um zwei Wochen geschoben.

FM4 Heartbeat gibt es auch zum Nachhören: Ab Dienstag, für 7 Tage, auf fm4.ORF.at/ondemand

Auch deshalb war das Bedürfnis der jüngeren MusikerInnengeneration, sich so deutlich wie möglich von ihr abzugrenzen, so groß – von Billy Bragg über The Beat oder Crass bis zu Elvis Costello.
Vieles davon war inspiriert und verlieh der Popmusik politische Kraft (aber auch nicht genug, um Wahlen zu entscheiden).
Bisweilen nahm das Feindbild Thatcher als böse Hexe und kaltherzige Matrone bedenklich misogyne Aspekte an, auch das muss gesagt sein.
Mein Freund Darren Hayman hat mit seiner Band Hefner vor 13 Jahren einen Song mit dem Titel „The Day That Thatcher Dies“ veröffentlicht, über den man heute – unter Berücksichtigung all des Obigen – gut diskutieren könnte.
Ich habe ihn gerade vorhin dazu eingeladen. Die Antwort war knapp:
“No. I planned this day for years. Saying nothing. Doing nothing. Sorry.“
Gut.
Dafür gibt es schließlich Tonträger.