Erstellt am: 18. 3. 2013 - 17:15 Uhr
Der innere Brecht
Non-uniform-day war vergangenen Freitag in den
meisten britischen Schulen.
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Nein, ich will hier keine Debatte über das Für und Wider von Schuluniformen vom Zaun brechen. Ich könnte, und mein Standpunkt wäre überraschend, würde aber bloß ablenken vom Kern der Sache, schließlich gibt es uniformfreie Tage in den hiesigen Schulen fast ausschließlich zu wohltätigen Anlässen.
Das geht so: Die Kinder dürfen in zivil kommen, sollen aber ein Pfund Spendengeld mitbringen für diesen oder jenen guten Zweck, was die Uniformfreiheit gleich wieder einen Deut weniger libertär macht, abgesehen vom sozialen Druck in Richtung einer anderen, nicht minder verpflichtenden Einheitlichkeit.
Kinder der Sechziger bis Achtziger werden mich verstehen, wenn ich sage, dass der Schulhof aussah wie eine Bhagwan-Kommune (die anderen können es ja googlen oder ignorieren). Die Kinder hatten alle Rot zu tragen, um sich auf den alle zwei Jahre stattfindenden Red Nose Day der Charity Comic Relief einzustimmen.
So nennt sich dieser Tag landesweit choreographierter Clownerie zugunsten einer Reihe unterstützenswerter Projekte, der in einer den ganzen Fernsehabend andauernden, sich über beide Hauptkanäle der BBC erstreckenden Ulk-Show gipfelt - nicht zu verwechseln übrigens mit den ebenfalls an ihrer Nasenfarbe zu erkennenden Clown-Ärzten in Zentraleuropa.
Nebst Crossovers existierender und Spezialepisoden verblichener Fernsehserien geht es bei Comic Relief um das alte Schikurs-Sketch-Prinzip der Autoritätsperson, die sich für ein bisschen Unfug hergibt. NachrichtensprecherInnen, die Cancan tanzen, Premierminister, die Gastrollen in Seifenopern geben, Komödianten in Popstar-Posen der genormten Variante Ausfallschritt und Fifties-Mikrophon. Alles Dinge, die nur witzig sein können, wenn man die Autorität der Person, die sich da publicityträchtig verhohnepiepeln lässt, im Innersten anerkennt bzw. diese Person überhaupt je den eigenen Wahrnehmungshorizont gestreift hat.
Nun ist Gute-Laune-Terror für eine gute Sache ja nichts Neues, war es aber, als der Komiker Lenny Henry in den 1980ern diese Sause ins Leben rief.

Robert Rotifer
Ich würde behaupten, die Briten sind immer noch weltführend in der Disziplin der komischen Erleichterung des schlechten Gewissens, vielleicht weil sie historisch schon früh damit angefangen haben, so wie auch mit ihrem Wohlfahrtsstaat, welcher derzeit allerdings einen auffällig schlechteren Stand genießt als die Wohltätigkeit.
Ein kurzer Blick auf die Website von Comic Relief und die Angelegenheiten, derer man sich in Großbritannien annimmt, liest sich freilich wie eine Liste der Kernkompetenzen des britischen Sozial- und Gesundheitssystems:
Mentale Gesundheitsprobleme junger Menschen, Alkoholismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung, finanzielle Beratung für ältere Menschen, Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt, von Asylwerberinnen, von jungen Menschen, die innerhalb ihrer Familie Fürsorgefunktionen ausüben, Initiativen lokaler Communities - allesamt von der seit drei Jahren verfolgten drakonischen Sparpolitik der Regierung akut betroffene Bereiche.
Just in derselben Woche, da Großbritanniens Fernsehpublikum ein Rekordsammelergebnis von 75 Millionen Pfund spendete, verklagten fünf behinderte Menschen die Regierung wegen des Bruchs ihrer in der UN-Konvention verbrieften Rechte auf ein menschenwürdiges Leben durch die Abschaffung des mit jährlich 320 Millionen Pfund bezifferten Independent Living Fund.
Das ist also etwas mehr als das Vierfache aller Spenden, die von Comic Relief am Freitagabend mit allerhand Klimbim eingetrieben werden sollten, geopfert im Namen der heiligen Austerität (bzw. ein Tausendstel dessen, was die Bank of England im Zuge ihres "Quantitative Easing"-Programms in den Bankensektor gestopft hat).
Und von der BBC gab's dazu bloß Schweigen, während gleichzeitig der Red Nose Day samt Rowan Atkinsons Aufforderung, mit dem Zaster rauszurücken ("give us your bleeding wonga"), bis zum Erbrechen betrailert wurde.
Ich war am Freitagabend also schon nahe dran, mir hier von meinem inneren Brecht vor Beginn des Telethons eine Polemik gegen diese offensichtliche Doppelmoral in die Tasten diktieren zu lassen.
Dann wurde ich aber wieder einmal nicht rechtzeitig fertig und stolperte stattdessen durch Anstreifen an der Fernbedienung in einen Selbstversuch:
Mein kurzfristiges Eintauchen in die Welt der guten Taten bestand aus einer flüchtigen Begegnung mit Bill Nighy in einem afrikanischen Kinderspital, die meine routinierte Kritik an der das System stützenden bürgerlichen Wohltätigkeit als blanke Unmenschlichkeit zu entlarven schien.
Schließlich haben Filme wie der Nighys ja auch noch den Sinn, ein Publikum, das ausschließlich seinesgleichen zuliebe aufdreht, mit Unrecht zu konfrontieren, das sonst niemand interessiert.
Trotzdem ist es wohl nicht nur Zeichen meiner eigenen Blödheit, dass ich heute schon keine Ahnung mehr habe, aus welchem Land Nighy da überhaupt berichtete.
*Nigeria
Bezeichnend auch die Erfolglosigkeit meines Versuchs, die Antwort zu ergooglen*.
Immerhin stoße ich dabei auf einen Live-Blog zum Fernsehabend auf der Website des Daily Telegraph. Da steht:
22.37 Bill Nighy's slow husky interviewing is gentle and sad.
"If anything happens to you, what will happen to your children?"
For the mother it is too difficult to answer.
Welche Mutter, in welchem Land und was ihr zustoßen sollte, bleibt unerwähnt. Man muss sich denselben Live-Blog nur mit dem Wort "Promi" statt der jeweiligen darin vorkommenden Namen vorstellen, um sich bewusst zu werden, wie absurd das alles ist.
Andernfalls konnte man an jenem Abend auch dranbleiben und sich dem auf den einfühlsamen Film folgenden Entsetzen in Form des Moderationspärchens John Bishop (Komiker) und Davina McCall (ältere Menschen wie ich erinnern sich an MTV in den Neunzigern) ausliefern.
Man könnte auch sagen, es sei ja egal, ob die Leute mitkriegen, wofür sie da spenden, solange Comic Relief das Geld für die richtigen Zwecke verwendet.
Genauso funktioniert übrigens aber auch das Steuersystem. Mit dem Unterschied, dass wir uns aussuchen können, wem wir beim Verteilen unserer Beiträge das Vertrauen schenken. In diesem Fall aber ist laut Umfragen eigenartigerweise besonders populär, wer genau dort spart (Sozialhilfe, Entwicklungshilfe), wo Comic Relief spendet.
Das soll einer verstehen.
Vielleicht hat er ja doch Recht, der innere Brecht.