Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Fenster zur Hölle"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

10. 3. 2013 - 17:52

Fenster zur Hölle

Wie mich neulich auf meiner Wohnzimmercouch ein Albtraum der rassistischen Blödheit heimsuchte. Aber hatte ich tatsächlich geschlafen?

Es ist immer noch was, wofür ich mich vor mir selber schäme, die geballte Würdelosigkeit des passiven Versackens vor dem blauen Flackern im Wohnzimmer wie neulich.

Gut, ich hatte meinen Zeichenblock auf dem Schoß und war gerade dabei, zur Illustration eines Songs über das alte Max-Liebermann-Zitat vom Nicht-so-viel-fressen-Können-wie-man-kotzen-möchte, alle möglichen Arten von Essen zu zeichnen: Pizzas, Kuchen, Obst, Braten, Käse.

Aber das blaue Flackern entwickelte seinen Sog, und außerdem war es Donnerstagabend, also der politische Debattenmarathon: Die 10 o'clock News, gefolgt von Question Time, begleitet vom dazugehörigen zwischenzeitlichen Blick auf Twitter zur Bestätigung der eigenen Entrüstung.

Das Problem ist bloß: Wenn die Lider schwer werden, erreicht man einen gewissen Grad der Wehrlosigkeit, und die Stimmen, die aus dem Fernseher kommen, füttern einen halbwachen Albtraum.

Wie bei jedem ordentlichen Nachtmahr kam die Würze zwar aus den aufgeschnappten Geräuschen des Moments, die Grundnahrung aber aus den Erlebnissen des vorangegangenen Tages.

Der hatte begonnen, wie er nun endete, mit dem täglichen Nachrichtenmarathon im Radio, inklusive der täglichen Geschichten über die wachsende Angst vor den Bulgaren und den Rumänen, die angeblich alle nächstes Jahr über den Kanal strömen werden, um den britischen SteuerzahlerInnen ihre ganze Sozialhilfe abzuknöpfen.

Die Zeitungen waren an jenem Tag noch voller davon als sonst. Besonders blöde wie der Daily Express (Link nur zu Belegszwecken, zur Vermeidung von Werbeeinnahmen bitte nicht klicken) schrieben gar von 29 Millionen potenziellen EinwanderInnen aus Bulgarien und Rumänien. Was bedeuten würde, dass die gesamte Bevölkerung beider Länder sich zum geschlossenen Umzug ins gelobte Land Großbritannien anschickt.

Die BBC muss sich da selbstverständlich auch draufsetzen, folgend ihrem Prinzip der gemäßigten Berichterstattung, demzufolge völliger Irrsinn allein durch die Dämpfung seiner Wiedergabe eine Art von Vernunft annimmt (tatsächlich verleiht man dem Irrsinn so bloß den Anschein der Seriosität).

Auf ein deprimierendes Interview mit dem deutschen Innenminister Hans-Peter Friedrich (Succus: Wenn die Deutschen schon mit paranoidem Beispiel voran gehen...) folgte also die redaktionelle Glanzidee eines Live-Telefonats mit einem gerade im Auto auf der Fahrt durch sein Herkunftsland befindlichen rumänischen Vermittler britischer Jobs an rumänische EinwanderInnen. Das Gespräch kulminierte in der forschenden Frage des Moderators, wie viele Landsleute der „anderen" (sprich arbeitsscheuen) Art denn nun zu erwarten seien.

Als der Rumäne radebrechend erklärte, dass es wohl „not normal" sei, mit der Absicht des Nichtstuns in ein neues Land zu ziehen, die rumänische Sozialhilfe zwar wesentlich geringer wäre, man sich dafür aber dort von selbstangebautem Gemüse ernähren könne, war der Tonfall des Moderators bereits in Richtung des für Ausländer vorgesehenen mitleidigen Desinteresses abgedriftet.

Ich konnte nicht anders als an die trashigen Fernsehsendungen aus der Zeit vor dem Crash denken, in denen von der Großmannssucht befallene Briten, denen das Kleingeld für Frankreich oder Spanien fehlte, nach Villen im Osten suchten und dabei verträumte Schlösser in Bulgarien fanden.

Dieselben Länder, deren pittoreske Reize damals die Portfolios der Immobilien-Avantgarde füllten, sind also nun offenbar zu lebensunwürdigen Höllenlöchern geworden, andernfalls auch „A2 countries“ genannt.

Kein Wunder, dass die Eingeborenen alle schleunigst nach Großbritannien, und nur nach Großbritannien wollen.

Zwar hat eine Untersuchungskommission erst vor einem Monat die finstersten Seiten des von ständigen Reorganisationen und Schulden aus der Kreditblasenzeit gebeutelten britischen Gesundheitssystems in Gestalt eines Reports über die Geschehnisse im Midstaffordshire Hospital offengelegt, wo einem Sparprogramm zuliebe vernachlässigte PatientInnen buchstäblich zu Hunderten im eigenen Urin verendeten. Aber in den Angstfantasien des englischen Kleinbürgertums erscheinen selbst diese Zustände noch als ein unwiderstehlicher Magnet für bedürftige OsteuropäerInnen.

Der wahre Grund für diese von fremdenfeindlichen Lobbies wie der „unpolitischen“ Plattform Migration Watch UK medial befeuerte Panik liegt allerdings ganz woanders. Man findet ihn unter anderem im Ergebnis der By-Elections von Eastleigh vor 10 Tagen.

(Zur Erklärung: Wenn, wie in diesem Wahlkreis der Fall, ein Parlamentsabgeordneter zurücktreten muss - eine lange, auch nicht unlustige Geschichte) - , dann finden dort kleine Unterhauswahlen zur Neubesetzung des freigewordenen Parlamentssitzes statt.)

Eastleigh ist ein kleinstädtisch südenglisches, konservativ bis liberales Territorium. Obwohl die Liberaldemokraten infolge der Kompromisse der Koalitionsregierung die miserabelsten aller denkbaren Umfragewerte aufweisen, konnten sie die dortige Zwischenwahl für sich entscheiden.

Der David Camerons Position als Chef ernsthaft gefährdende, große Schock war allerdings der zweite Platz der europhoben UK Independence Party (UKIP), eindeutig vor den Konservativen (Labour wurde vierter, hatte aber in diesem Wahlkreis nie eine Chance gehabt, was im "First past the post"-System immer taktische Stimmen kostet).

Wie hier (räusper) vorausgesagt, hat David Camerons Ankündigung eines EU-Austritts-Referendums nach den nächsten Wahlen, den Vormarsch von UKIP also nicht gestoppt, sondern im Gegenteil bloß beflügelt.

Lord Ashcroft, Milliardär, Steuervermeider und größter Geldgeber der Tories, veröffentlichte Ende letzten Jahres eine Umfrage über die Motivationen der UKIP-WählerInnen, deren Ergebnisse in der politischen Szene für einiges Aufsehen sorgten.

Wie sich herausstellte, war das Thema Einwanderung dem UKIP-Anhang doppelt so wichtig wie das euroskeptische Steckenpferd der Partei, übertroffen noch vom Gassenhauer Sozialschmarotzerei.

Für die Tories ist das besonders frustrierend, schließlich haben sie vor allem letztere Leier doch selbst so heftig angestimmt, um damit den Abbau des Sozialbudgets zu verkaufen.

Keine Rede, in der Schatzkanzler Osborne nicht sein Mitgefühl mit dem ehrlichen Arbeiter heraufbeschwört hätte, der jeden Morgen an den heruntergelassenen Jalousien seiner Nachbarschaft vorbeigehen muss, hinter denen schamlose Sozialhilfeempfänger auf Steuerzahlerkosten schlummern.

Die aktuelle Anti-Bulgaren-und-Rumänen-Rhetorik ist ein tagespolitisches Fressen, verbindet sie doch alle oben genannten Themenkreise in einer handlichen Packung, auch wenn die zugehörigen Fakten sich nur mit viel Biegen und Brechen reinzwängen lassen.

Tatsächlich beziehen nur sieben Prozent der EU-EinwanderInnen in Großbritannien irgendeine Art von Sozialhilfe, im Vergleich zu 15 Prozent unter den geborenen Briten.

Im Daily Express wird man so eine Statistik freilich nicht lesen. Auch nicht in der Sun, deren (seit den letzten Wahlen eigentlich mit den Tories verbündeter) Eigentümer Rupert Murdoch sich neulich mit niemand anderem als UKIP-Chef Nigel Farage zu einem strategischen Gedankenaustausch traf.

Es gibt Leute in der Labour Party, die sich über diese Spaltung der Rechten in zwei Lager schon freudig die Hände reiben. Tatsächlich prophezeit ihnen auch Lord Ashcrofts jüngste Umfrage einen Erdrutschsieg bei den nächsten Wahlen.

Aber wenn offene Fremdenfeindlichkeit einmal Mainstream geworden ist, baden am Ende alle in derselben Brühe.

So kam es auch, dass an diesem, meinem Albtraumabend vorm Fernseher vergangenen Donnerstag der Gewerkschaftsführer Bob Crow von der Rail, Maritime and Transport Union als verlässlich provokanter Alibi-Linker auf dem Question-Time-Podium überraschend auf Linie mit der rabiaten rechten Daily Mail-Kolumnistin Melanie Philips ging: Er forderte Großbritanniens Austritt aus der EU, sowie die Einführung einer Arbeitsscheinpflicht für EU-AusländerInnen. Soviel zur internationalen Solidarität (Crow bezeichnet sich als Sozialist).

Nun stimmt es wohl, dass die Zuwanderung aus dem Osten in Großbritannien schon seit vielen Jahren als Lohnbremse am unteren Ende der Einkommensskala fungiert. Wer so wie ich in Kent wohnt und sieht, wie die saisonweise anreisenden Obstpflücker aus Osteuropa in Caravans hausen, deren Betriebskosten ihnen auch noch zynisch von ihrem minimalen Lohn abgezogen werden, muss sich natürlich fragen, wer früher einmal dieses Obst geerntet hat.

Das bei solchen Gelegenheiten gern als Umkehrung xenophober Vorurteile ausgepackte Argument, die fleißigen Osteuropäer machten eben Arbeit, für die sich die Briten zu schade seien, rechtfertigt aber genau jenes Lohn-Dumping, das die Industriellenvereinigungen Europas zu so verlässlichen Befürwortern offener Grenzen macht.

Und es nimmt einen geradezu obszönen Ton an angesichts des heute (Sonntag) veröffentlichten Berichts des Centre for Social Justice über Menschenhandel und moderne Sklaverei in Großbritannien, aus dem unter anderem hervorgeht, dass die Polizei die Schicksale betroffener AusländerInnen als Fremdenrechtsangelegenheiten abzuhandeln pflegt.

Nicht zufällig ist der Minister for Immigration Mark Harper in der Regierung für das Thema Menschenhandel zuständig.

Auf diesen Umstand angesprochen, meinte er heute in einem Radiointerview – offenbar nicht einmal im Scherz – , er habe ja noch andere Zuständigkeiten, „zum Beispiel Abschiebungen“.

Um ehrlich zu sein, hat Ed Milibands Labour Party gar keine schlechte Antwort darauf ausgearbeitet: Ja, es brauche eine harte Linie, aber eben eine harte Linie gegen jene Arbeitgeber, die ihre Belegschaft illegal unter dem Mindestlohn arbeiten lassen und so nicht nur diese ArbeiterInnen ausbeuten, sondern auch die anderen Arbeitssuchenden und auch jene ArbeitgeberInnen, die sich an die Regeln halten.

Hängen bleibt von dieser Argumentation freilich leider nur die Überschrift, nämlich die mantrisch wiederholte Entschuldigung: „We got it wrong on immigration.“

Zuerst hielt ich das nur für eine unglückliche Formulierung, aber in Wahrheit ist ihre Schwammigkeit natürlich darauf angelegt, zwischendurch auch all jene UKIP-WählerInnen zufrieden zu stellen, denen jetzt schon die vielen slawischen Stimmen auf allen Straßen gegen den Strich gehen, egal wie viel diese Leute zur darniederliegenden britischen Wirtschaft beitragen oder unter welchen Bedingungen sie hier leben.

Schließlich ist das alte Klischee, Immigration sei ein Tabuthema, weil man sich dabei dem Rassismusverdacht ausliefere, eine genaue Umkehrung der Wahrheit: Die Debatte über Immigration wird in diesem Land seit Jahren mit wachsender Obsession geführt. Das tatsächliche Tabu ist, ihren rassistischen Kern beim Namen zu nennen, wie interessanterweise nicht nur Gordon Brown 2010 im Fall des sogenannten Bigotgate sondern auch David Cameron 2006 feststellen musste, nachdem er UKIPs AnhängerInnen ziemlich treffend als "fruitcakes, loonies and closet racists, mostly" (Spinner, Irre und heimliche Rassisten) charakterisiert hatte.

Ein von UKIP immer noch gern zitierter Lapsus, der Cameron heute sicher nicht mehr über die Lippen käme. Nicht bloß, weil er seither schlauer geworden wäre, sondern weil der politische Diskurs sich mit Fortlauf der Krise und der taktischen Beschuldigung derer, die sich nicht wehren oder nicht wählen können, in Richtung eines akzeptierten Alltagsrassismus verschoben hat.

Wie es eine UKIP-Wählerin in einem Voxpop neulich so schön selbstentlarvend formulierte: Sie wolle mit ihrer Stimme ein Zeichen dagegen setzen, dass alle Ausländer bloß hier herkämen, um Sozialhilfe zu beziehen, „but not in a horrible way.“

All das wälzte ich im Dusel des Halbschlafs in meinem Kopf herum, vermengt mit dem Gastauftritt des Guido Westerwelle am selben Abend in den Channel Four News, in dem der deutsche Außenminister die griechischen Neonazis von der Goldenen Morgenröte als „a little minority“ verharmlost hatte.

Und dann machte ich wieder die Augen auf und erblickte eine alles Vorangegangene in den Schatten stellende Vision:

Die beiden in Großbritannien nie ganz vergessenen, aus Rumänien stammenden Sexploitation-Popstars Cheeky Girls im Studio der auf Question Time folgenden, vom rechten Querdenker und Ex-Medienmogul Andrew Neil moderierten Politik-Talkshow This Week.

Sie waren eingeladen worden, um den Briten die Mentalität der Rumänen zu erklären. Im Eifer des Gefechts wälzten sie die Schuld am vorgeblichen rumäno-bulgarischen Einwanderungsproblem prompt auf das britische Sozialsystem ab, das es angeblich einträglicher mache, sich vom Staat die Miete zahlen zu lassen, anstatt selbst arbeiten zu gehen.

Ein höllischer Kreis hatte sich da geschlossen, von den Cheeky Girls nach Mitternacht bis hin zum stotternden rumänischen Arbeitsvermittler am Morgen. Mein Donnerstag der dümmlichen Desinformation war nun vollkommen.

Ich musste an einen Freund denken, dem sein Therapeut zur Bekämpfung seiner depressiven Tendenzen alle Nachrichtensendungen strikt verboten hatte. Und ich sagte mir vor, dass - selbst wenn ich in diesem Großbritannien längst nicht mehr das weltoffene Land wieder erkenne, als das es sich einst in besseren Zeiten darstellte - es anderswo auch nicht besser wäre.

Was dann auch wieder kein großer Trost ist.

Auf meinem Twitter-Feed erschien indessen ein Tweet des Autors John O'Farrell, der in der By-Election von Eastleigh als Labour-Kandidat vierter geworden war:

„Fell asleep in front of the telly and had nightmare that The Cheeky Girls were being interviewed on complex political issues by Andrew Neil.“

Unglaublich, aber genau dasselbe hatte ich auch gerade geträumt.