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Katharina Seidler

Raschelnde Buchseiten und ratternde Beats, von Glitzerkugeln und Laserlichtern: Geschichten aus der Discommunity.

7. 2. 2013 - 12:47

Gesang der Jünglinge

Keine Meisterwerke mehr, pah! Die sehr höfliche Band Tocotronic im plüschsamtenen Burgtheatersaal.

„Endlich an der Burg“, sagt Dirk von Lowtzow in den Konzertankündigungen, die in den letzten Tagen über unseren Äther gelaufen sind, und „Endlich an der Burg“ spricht er auch heute zu seinem Tontechniker, als er vor der Show mit neuer Schlingesieffrisur auf die Bühne kommt, um seine Gitarre zu stimmen. Dirk von Lowtzow trägt rote Socken. Arne Zank beäugt das Schlagzeug, auf dem linken Verstärker sitzt ein Stofftier, es schraubt sich der eiserne Vorhang herunter.

Wenn er wieder aufgeht, stehen da vier Menschen, die wahrscheinlich mehr beste Freunde haben, als sie ahnen. Welche Situation gibt es eigentlich, die nicht durch ein Tocotronic-Lied besser wird, wer kann eine schönere Liebeserklärung nennen als das Versprechen, für jemanden nüchtern zu bleiben? Große Theaterbühnen sind Tocotronic nicht mehr fremd. Was in Hamburger Punkschuppen und Kaschemmen begann, hat längst seinen Weg über die Rocks am Ring und Roskildes dieser Welt, durch besetzte Häuser, Straßendemo-LKWs, Mehrzweckhallen, hinauf auf die Berliner Volksbühne, ins Wiener Radiokulturhaus und ins Hamburger Schauspielhaus gefunden. Es ist dies: der unwahrscheinliche Spagat zwischen Punk und Diskurs, Pop-Poesie, Revolte und Lebensverbesserung, prätentiös oder unprätentiös, auf jeden Fall aber immer die Kurve kriegend vom einem zum anderen.

Pamela Rußmann

Es beginnt mit Karlheinz Stockhausens "Gesang der Jünglinge", nagut. Die Hochkulturbrücke somit hinter sich gelassen, darf es mit "Im Keller" losgehen, der heute einzig logischen Anfangsnummer. „Hey, ich bin jetzt alt“, wischen Tocotronic gleich mit dem Opener ihres neuen Albums alle Unkenrufe der Punkpuristen und Anfangsphasenverfechter vom Tisch. "Ich habe nichts gewollt", aber auch: „Das Glück hat mich verfolgt“. Schwer breitet sich die Stimme durch den rotbeplüschten Saal aus, es herrschen wenig überraschend ausgezeichnete, wenn auch etwas verhallte Soundverhältnisse.

Die neuen Nummern funktionieren sehr gut. Tocotronic haben sie, wie man weiß, ebenso wie die der letzten Alben auf einmal im Studio eingespielt. Das kann man sicher irgendwie besser beschreiben, aber es meint vor allem dies, dass hier nichts für die Bühne adaptiert oder umstrukturiert werden muss. Alles ist an seinem Platz. Der Klang des Theaters verleiht den Liedern eben jene federnde Tiefe, wegen der sich Tocotronic auf dem aktuellen Album für das aufwändige Vierspur-Aufnahmeverfahren entschieden haben. Die einzelnen Gitarrenstimmen kommen ebenso zur Geltung wie Jan Müllers sehr gute Basslinien, und das Ganze, das sich zusammenfügt, besteht dennoch aus fünf einzelnen, heraushörbaren Teilen, das ist ja bei weitem nicht selbstverständlich.

Wie man altern wollen soll, zeigen frühe Stücke wie die allerallererste Tocotronic-Nummer "Meine Freundin und ihr Freund", später auch "Jackpot", "Hi Freaks" oder "Aber hier leben, nein danke", die Hymne aller Heimathasser. Warum reißt es spätestens jetzt eigentlich nicht alle Menschen aus den Sitzen? Hier wird wie immer sehr gründlich und erfolgreich daran gewerkt, prinzipiell und vor allem angesichts des Konzertrahmens nicht in akustische Befindlichkeits-Ernsthaftigkeit zu verfallen.

Tocotronic in Österreich:
07.04.2013, Graz Orpheum
09.04.2013, Gasometer Wien
10.04.2013, Linz Posthof

Das Augenzwinkern ist unser bester Freund, das wird in Hinblick auf Tocotronic ja manchmal vergessen. Denn bevor sich einem bei "Alles wird in Flammen stehen" das Herz in der Brust zusammenschnürt und die zu bekämpfende Bestaunung überhand nimmt, lässt die Band die Worte "Lucifer Rising" in hässlicher Schrift über den projizierten Horizont hinter sich laufen, ebenso wie sich der Erdbeerduft in "Pfad der Dämmerung" in Erdbeergestank verwandelt, ehe sich noch jemand Tränen aus den Augen wischt. Das "Hahaha" nach dem Refrain muss Dirk - man ist bei dieser Band ja immer versucht, wie bei guten Freunden immer nur den Vornamen zu schreiben - von Lowtzow bei dieser Nummer alleine singen, schade eigentlich.

Pamela Rußmann

Ab 8.2. für 7 Tage online: Das Tocotronic Konzert im Burgtheater als Audiostream

Auch das Theatralische im Werk von Tocotronic ist also nur ein Spiel. Von Lowtzow als verhinderter Schauspielschüler, 1991 in Graz mit der Masturbationsszene aus Frank Wedekinds „Frühlingswerwachen“ gescheitert ("Ich hatte eigentlich viel geübt"), steht endlich auf der Bühne der "Burg" und bemüht sich sehr, dass das nicht missverstanden wird. Tocotronic spielen ihre Stücke eben nicht nur am Boulevard, sondern hauen noch immer recht ordentlich in die Saiten, dennoch überwiegt im Saal die Ehrfurcht und führt teilweise zu seltsamen Stillemomenten zwischen den Songs.

Pamela Rußmann

Aber Dirk, warum sangst du nicht "Neutrum"?

Es gibt drei Zugaben, dann noch eine. Dirk „ich habe eigentlich immer nur zwei Trainingsjacken besessen“ von Lowtzow im gemusterten Hemd bedankt sich sehr höflich, Arne Zank springt und strahlt. "Freiburg" am Ende wird, wie ausschließlich durch akribische Eigenrecherche und überhaupt nicht durch ein Gespräch mit der Band im Nachhinein herausgefunden wurde, mit einer kurzen Coverversion von Albert Aylers "Music is the healing force of the universe" verbunden. Es kommen zusammen: Gitarren-Auflehnungshass und Freejazz-Liebe.

Vor allem Liebe.