Erstellt am: 6. 11. 2012 - 19:12 Uhr
Wenn der kleine Bruder zuschaut.
Es ist ja schon meine vierte in England verbrachte US-Präsidentschaftswahl. Ich sollte mich also eigentlich nicht mehr drüber wundern oder ärgern, tu's aber dann doch, mit derselben Vorhersehbarkeit wie die Briten hier ihren rituellen Rundtanz unter den Rockzipfeln der Weltmacht abziehen.
Das Spiel läuft so: In jeder Nachrichtensendung taucht ein bekanntes britisches ModeratorInnen-bzw. ReporterInnengesicht vor eindeutig erkennbar amerikanischem Hintergrund auf.
Das Kräuseln des Haupthaars im Wind bestätigt dann, dass diese Person nicht nur so tut als ob, sondern tatsächlich DANK MEINEM JÄHRLICHEN LICENSE FEE von der BBC nach Amerika geflogen wurde, um „vor Ort“ zu sein und Voxpops von PassantInnen einzufangen.
Deren Aussagen, sowie die der angemieteten Pundits dazwischen müssen sofort mit jeder Menge Plattitüden über die Unergründlichkeit des Wahlvolkwillens relativiert werden, zumal es diesmal so wie jedes Mal enger wird „als je zuvor“, auf dass wir alle bis um sechs in der Früh dranbleiben.
Dementsprechend gibt es Punkte für jede Verwendung der Phrase „too close to call“, pflichtgemäß gefolgt von der Enthüllung der Kernstrategie des jeweiligen Kandidaten "to get the voters out to the polls" (you don't say!) "and hope that they will tell their friends, families and colleagues to go out to vote as well" (hätten wir von England aus nie für möglich gehalten).
James Naughtie, Moderator des dreistündigen Morgenjournal-Äquivalents "Today" mit salonschottischem Zungenschlag (und Urheber des berühmtesten Hoppalas der jüngeren britischen Radiogeschichte), packt bei US-Wahlen verlässlich den inneren F. Scott Fitzgerald aus und extemporiert mit feierlichem Ton seine Great American Novel samt Schilderungen von Leuten, die mit der Mundharmonika in der Hosentasche „around an open fire“ sitzen und bei Pancakes mit Maismehl-Melasse den Ausgang des kommenden historischen Moments abwägen. Zuzüglich Beschreibungen von endlosen Highways und Hügeln, die „roll towards the Atlantic“, oder war's der Pazifik.
Naughties heutiger Bericht begann mit dem Satz: „Today I wish I was in New Hampshire...“ Keine Ahnung, wo er war, Washington vermutlich, aber ehrlich: Wie undankbar kann einer sein?
Alle, alle sind sie dort, in ihren Hundertschaften, reisend von Swing State zu Swing State, und übergeben einander das nie endende Wort: der hyper-arrogante Jeremy Paxman, die kaum verhohlene Hauskonservative Martha Kearney, der immer fetter werdende Mark Mardell, der zum Republikaner-Claqueur aufgestiegene Ex-Europhobie-Korrespondent Johnny Dymond, Justin Webb, Laura Trevelyan, Hugh Edwards, Mark Urban und einige mehr, deren Namen ich mir nicht merken kann...
Keine Sendung der letzten Woche, die nicht zur Hälfte aus Amerika präsentiert wurde. Halbleere Kantinen im Broadcasting House und in der neuen MediaCity in Salford. Die Zuhausegebliebenen dürfen einstweilen vor der Video-Wand stehen und zum x-ten Mal von Neuem das Wahlmännersystem erklären.

Robert Rotifer
Und das ist bloß die BBC, bei den Privaten ist's auch nicht anders.
Meine Twitter-Timeline füllt sich in der Zwischenzeit mit den Statements sonst durchaus vernünftiger KommentatorInnen, die mahnend auf die Schattenseiten der Obama-Administration hinweisen, so als hätten sie gerade zum ersten Mal von Drohnenangriffen gehört.

Robert Rotifer
So als glaubten sie plötzlich selbst an den Mythos des Präsidenten als moralisch berufener „leader of the free world“ statt als möglichst weniger skrupelloser Vertreter der Interessen jener Leute, die ihm zwar sein 2 Milliarden-Dollar Wahlkampf-Budget verschafft haben, ihn aber – und insofern ist es dann doch auch ein bisschen Demokratie – immerhin nicht wählen dürfen.

Robert Rotifer
Wer so wie diese Leute angesichts der US-japanischen Kriegsspiele in Chinas Riechweite, der Spannungen zwischen China und Indien der wachsenden Wahrscheinlichkeit eines Kriegs zwischen Israel und dem Iran, bzw. nach der Erfahrung des Irak-Kriegs meint, diese Wahl sei eine gute Gelegenheit, die eigene Originalität zu beweisen, hat offensichtlich stärkere Nerven als ich. Oder eine präsidententaugliche Profilierungsneurose.
"The world's future depends on Romney being defeated",
tweetet Owen Jones ganz wichtig: "But it doesn't mean become cheerleaders for Obama or not holding him to account."
Eh.
Aber eigentlich schaut er auch nur zu. Wie wir alle hier.