Erstellt am: 19. 10. 2012 - 20:18 Uhr
Paper Round
Ein Herbstmorgen in Canterbury, 6 Uhr 30 in einem Land, wo die Schulen und Büros erst um neun aufmachen, mein Rad - ein schwarzes Pashley Sovereign, man gönnt sich ja sonst nichts - rollt die schwarze, glänzende Straße hinunter in Richtung Oaten Hill, wo ein einsames Licht den Premier Newsagent ausweist.

Robert Rotifer
Ich stoße die Glastür auf und grüße Glenn, einen ergrauten Mann mit schütterem Haar und dicken Brillen, der wie jeden Tag schon vor einer Stunde die Stöße von Zeitungen nach Adressen geordnet, nummeriert und aufgestapelt hat.
Ich stecke meinen Stoß in die vom Daily Telegraph zur Sicherheit der paper boys und paper girls des Landes als Werbegeschenk gespendete, reflektierend gelbe Schultertasche und mache mich auf in Richtung Dunkelheit.
In der ersten Sackgasse gibt es zwei Telegraphs und eine Times abzuliefern. Die beiden Telegraphs gehen an Bungalow-Häuser aus den Sechzigern oder Siebzigern, beliebt als Rentensitz für Leute, die sich schon mit dem Stiegensteigen schwer tun - passend zum altmodisch konservativen Stil der Zeitung, die sie abonnieren.
Wer nach Bestätigung für seine Vorurteile sucht, wird sie finden. Ich mache mir ein Spiel daraus.
Die Times-Kundschaft wohnt in einem kleinbürgerlichen, gepflegten Haus, auch gut vereinbar mit der Funktion dieser Zeitung als erschwingliche Möglichkeit, sich als Teil des Establishments zu wähnen.
Ich gebe mir Mühe, die Briefschlitze so wenig wie möglich klappern zu lassen. In manchen der Häuser brennt am Gang ein Nachtlicht, in anderen scheint schon jemand in der Küche zu stehen. Auf einigen Schwellen stehen bereits die Milchflaschen, die der elektrische Milchwagen schon lange geliefert hat. Manche lassen sich hier sogar ihre Cornflakes an die Tür bringen.
Wieder auf der breiten Straße angekommen, beliefere ich zwei 500 Jahre alte Fachwerkhäuser der Sorte, deren verwinkelt knorrigen Fassaden Immobilienmakler wohl das euphemistische Prädikat "Charakter" verleihen würden, mit jeweils einem Guardian.
Die nächsten Zeitungen gehen wieder an ein paar Sackgassen-Bungalows. Diesmal sind auch zwei Daily Mails dabei.
Beim Zusammenrollen stelle ich erstaunt fest, dass dieses xenophobe Kampfblatt der kleinbürgerlichen Rechten tatsächlich eine Frauen-Beilage mit dem herrlich schwachsinnigen Titel "Femail" herausgibt. Ich wundere mich, was dort alles an Ideen über den Redaktionstisch geht. Aber nur ein bisschen.
Ein paar Häuser weiter fällt mir zum ersten Mal auf, dass die AbonnentInnen des ebenfalls rabiat rechten, aber noch ein Quäntchen übergeschnappteren Daily Express sich gerne verglaste, weiße Plastikveranden vor ihre Haustüren bauen lassen. Potenziell brauchbare Infos für Inserenten.
Im Vorgarten der Nummer 99 hat Glenn wie ein Osterhase einen schwarzen Müllsack voller Zeitungen hinter einer Hecke versteckt, weil es heute (es ist Donnerstag) mehr als nur eine Taschenladung auszutragen gibt.
Am Donnerstag erscheint nämlich die beilagenschwangere Kent Gazette, die eine noch verbliebene, leider immer tiefer in Richtung bodenloser Schwachsinn gleitende Lokalzeitung.
Auf der Titelseite ist ein Bild dreier Schülerinnen einer örtlichen Sekundärschule zu sehen, die jeweils stolz einen iPad in Händen halten. Darüber steht zu lesen, ihre Schule habe 125.000 Pfund dafür ausgegeben, alle SchülerInnen mit diesem elektronischen Lehrmittel auszustatten.
Sie sind sogar angehalten, ihre iPads nach Hause mitzunehmen.
Robert Rotifer
Während ich mir überlege, wie schwachsinnig das ist, zumal nun sämtliche Kinder in den blitzblauen Uniformen der betreffenden Schule KandidatInnen für einen schnellen Straßenraub sind bzw. zumindest KandidatInnen für die Erfindung spektakulärer Geschichten über schnelle Straßenräuber, bzw. mir ausmale, wie viele Monate diese Investition wohl überleben wird und um wie viel länger sich Schulbücher verwenden lassen, fällt mir erst die tragische Ironie der Story auf.
Schließlich ist völlig klar, dass wir es hier mit den letzten Atemzügen der Kent Gazette zu tun haben, nachdem ihr hauptsächliches Geschäft, die Immobilien-Anzeigen, immer mehr in Richtung Internet abwandern, so wie auch sonst alles, womit sich Zeitungen früher einmal ihr Taschengeld verdient haben.
Ich bin an diesem Morgen übrigens nur als Stellvertreter unterwegs, für meinen Sohn, den paper boy, der gerade ein paar Tage auf Schulausflug gefahren ist. Er ist doppelt so schnell wie ich.
Als Glenn, der Trafikant, uns beim Dienstantritt meines Sohns zum ersten Mal die Route erklärt hat, hat er uns wie ein Fremdenführer einer Geisterstadt all die Häuser ausgewiesen, wo früher einmal ausgeliefert wurde. In der guten alten Zeit vor fünf bis zehn Jahren.
Aber sobald jemand stirbt oder ins Altersheim geht und ein junges Pärchen oder eine neue Familie wo einzieht, ist für Glenn das Geschäft vorbei.
Unsere Familie sagt er, sei eine der wenigen unter 50, die sich noch eine Zeitung liefern lasse.
Nach meiner dreitägigen Erfahrung mit der Runde, die mein Sohn jeden morgen dreht, dem Anblick der Gartenzwerge, der sich durch den Briefschlitz abzeichnenden Stiegenaufzüge, der Begegnung mit einer Frau um die sechzig, die sagt, dass sie die Betreuerin ihrer Mutter fragen werde, ob jene überhaupt noch die Kent Gazette beziehen wolle, vermute ich eher, wir sind die einzigen.
Robert Rotifer
Am selben Tag erfahre ich, - zuerst natürlich via Twitter - dass in den USA nach fast 80 Jahren ihres Bestehens das Magazin Newsweek nur mehr online hinter einer Paywall erscheinen wird.
Niemand auf meinem Feed gönnt sich die Illusion, diese Nachricht als Anbrechen eines neuen Zeitalters für das Magazin zu rühmen. Alle wissen, das ist der Anfang des baldigen Endes.
Robert Rotifer
Allerdings, wie ich als Musikjournalist nur zu gut weiß, gibt es heutzutage kein richtiges Ende mehr. Die Band oder die brand besteht als hohle Eierschale weiter.
Irgendwas wird schon Newsweek heißen auf dem Schrottplatz der Online-Medienwelt. Geschäftsmodell dafür, was eine Wochenzeitung einmal an Recherche, Faktenprüfung und Schreibarbeit bedeutet hat, gibt es jedenfalls keines.
Robert Rotifer
Noch eine Ironie ist mir bewusst. Ich schreibe das hier auf einem Blog, den ich nun schon seit über 12 Jahren mit Geschichten beliefere. Aber ein Blog wie dieser, das weiß ich gerade deshalb am besten, ist keine Zeitung und soll auch keine sein.
Zugegeben, Tränen sind mir noch keine gekommen, ich war schließlich nie ein Newsweek-Leser. Aber das schnelle Ende ihrer Print-Edition hat auch anderen, absurd klingenden aber hartnäckigen Gerüchten einen übel riechenden Hauch von Gewissheit verliehen: Dem unüberhörbaren Unken vom bald bevorstehenden Ende der wichtigsten Tageszeitung des Landes, des Guardian.
Robert Rotifer
Und das trifft, nicht nur ins Herz, sondern leider auch ins Hirn, wo nämlich schon noch einiges reingepasst hätte, das mir diese Zeitung jeden Morgen auftischt.
Wo wir schon beim alten Online-versus-Print-Thema sind:
Ich schlage ein Spiel vor. Wenn irgendjemand in den Postings hier drunter das Schlagwort "Holzmedien" gebrauchen sollte, dann werten wir das einfach als Bestätigung der Tatsache, dass Leute unter Online-Stories posten, ohne sie zu Ende gelesen zu haben.
Ich bin mir nicht sicher, dass Zeitungsartikel eher fertig gelesen werden als Online-Texte, und die Tatsache, dass ich vom gedruckten Blatt immer noch mehr Information aufnehme als vom Bildschirm, mag mehr ein Zeichen meines Jahrgangs als ein Problem des Mediums sein.
Aber ich weiß, dass ich Zeitungen von vorne bis hinten zu durchstöbern pflege und dabei an Dingen hängen bleibe, die ich nie und nimmer aus einem Klick-Menü ausgewählt hätte (Beispiele aus der heutigen Ausgabe des Guardian als Illustrationen zu diesem Text).
Robert Rotifer
Ich sage das in dem vollen Bewusstsein, dass das Internet mir Möglichkeiten bietet, die meiner Zeitung abgehen. Zum Beispiel jetzt gerade, als der Schatzkanzler George Osborne von einer ITV-Reporterin, die zufällig im selben Zug saß, ertappt wurde, wie er mit einem Zweite-Klasse-Ticket in der Ersten fahren und dann nicht die Differenz aufzahlen wollte.
Ich bekam vom Netz endlos viele Möglichkeiten serviert, mich in diese triviale aber amüsante und durchaus symbolträchtige Story zu vertiefen (Osbornes Leitspruch zur Wirtschaftskrise ist "We're all in this together").
Aber ich verlor dabei auch die Perspektive, den Blick auf alles andere, Wichtigere, das gleichzeitig in der Welt vor sich geht.
Wie wir wissen, bedienen die Algorithmen des Internet den Tunnelblick. Je intelligenter konzipiert, je User-freundlicher programmiert, desto schlimmer.

Robert Rotifer
So gesehen, das muss ich auch zugeben, ist die bigotte alte Daily Mail an User-Freundlichkeit immer noch unübertroffen.
Aber Daily Mail-LeserInnen bezahlen bewusst für die Bestätigung ihrer engstirnigen, verängstigten Paranoia. Der Gratis-Konsum von Online-Medien, wie "sozial" auch immer, bietet dagegen die Illusion der freien Meinungsbildung in einer unendlichen, tatsächlich mit jeder verwerteten User-Information spezifischer und enger werdenden Informationswelt.
Großbritannien, und vor allem der britische Journalismus (das hat nicht zuletzt der von einem echten Journalisten wie Nick Davies aufgedeckte News-of-the-World-Mailbox-Hacker-Skandal gezeigt) braucht den Guardian.
Schon überhaupt, wo der noch vor sechs, sieben Jahren mehr als konkurrenzfähige Independent so schwachbrüstig geworden ist.
Die vorbildliche Online-Version des Guardian mit ihrer kindischen und völlig kontraproduktiven Praxis, selbst Kommentare und zeitlose Feuilletontexte schon am Abend vor der Printversion zu veröffentlichen, macht trotz aller Zukunftsgewandtheit immer noch beharrlich Verluste. Sie wird für sich allein also nie das heutige Niveau an journalistischen Ressourcen rechtfertigen können.
Das Verschwinden dieser Zeitung wäre für dieses Land eine demokratiepolitische Katastrophe.
Aber noch ist es ja nicht soweit.
Und morgen ist wieder der Sohn mit dem Austragen dran.