Erstellt am: 13. 9. 2012 - 14:11 Uhr
EU-Richtline zu "verwaisten" Werken
Im Plenum des Europäischen Parlaments wurde heute die Richtlinie zum Umgang mit sogenannten "verwaisten Werken" mit großer Mehrheit verabschiedet. 531 Abgeordenete sprachen sich bei nur elf Gegenstimmen für die Richtlinie aus, 65 Parlementarier vor allem der Grünen enthielten sich der Stimme (siehe unten).
Diese Richtlinie sollte es Filmarchiven, Bibliotheken, Dokumentaristen, Museen, Zeitgeschichtsforschern, TV-Anstalten et al. wesentlich erleichtern, Filmaussschnitte, Tonaufnahmen, Fotos oder Texte öffentlich zugänglich zu machen.

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All diese Inhalte sind in den Archiven derzeit auf Jahrzehnte eingefroren, weil Autoren, Regisseure, Produzenten, Musiker, Schauspieler und andere Rechteinhaber tot, nicht auffindbar oder niemandem mehr bekannt sind. Wenn deshalb keine Rechte erworben werden können, kann nichts davon öffentlich gezeigt oder gespielt werden, das Werk gilt als "verwaist".
Archive als Waisenhäuser
Diese Schätze in den Archiven sollten nun freigegeben werden, wenn eine gründliche Suche ergibt, dass etwa ein Buchautor erbenlos verstorben ist, der Verlag nicht mehr existiert und auch Buchillustrator sowie Cover-Gestalter nicht auffindbar sind.
Laut einer Studie der British Library sind 31 Prozent ihres Bücherbestands zwischen 1870 und 2010 verwaiste Werke. Und das bei Büchern, den mit Abstand am besten dokumentierten Genre. Ton- und vor allem Filmarchive aber sind wahre Waisenhäuser, weil es bei jedem Werk so viele verschiedene Rechteinhaber gibt.
Werden dort etwa Aufnahmen ohne Vor- oder Nachspann und unzureichender Beschriftung entdeckt, die einen berühmten Burgschauspieler bei einer Feier mit heute unbekannten Künstlerkollegen zeigt, dann wird die Klärung der Rechte kompliziert bis unmöglich. (Siehe Kasten rechts).
Auflagen als Dilemma
Wieviel die Richtlinie in ihrer gegenwärtigen Form beitragen wird, dieses Dilemma der multimedialen Informationsgesellschaft zu lösen, ist dennoch fraglich. Die grüne Fraktion im Parlament hat sich deshalb auch der Stimme enthalten.
Es sei zwar eine Reihe von Verbesserungen gegenüber dem Status Quo enthalten, sagte die österreichische Abgeordnete Eva Lichtenberger zu ORF.at. Insgesamt sei es jedoch eine verpasste Chance, denn auch die nun etwas nachgebesserte Version, enthalte immer noch weitaus zuviele Auflagen.
Schadenersatz und Abkassierer
Absehbar ist zum Beispiel, dass verschiedene Interpretationsmöglichkeiten des Kernbegriffs der "sorgfältigen Suche" (diligent search) erst wieder Rechtsunsicherheit schaffen.
Dafür sieht die Richtlinie nämlich nicht näher quantifizierte Schadenersatzansprüche vor. Das ist nur eins von mehreren möglichen Einfallstoren für Anwaltskanzleien, die etwa mit Abmahnungen nach deutschem Vorbild oder einstweiligen Verfügungen nach US-Muster mitkassieren wollen. Der mögliche Markt für diese Abkassier- und Mitschneidejuristen ist dabei von enormer Größe, was entsprechende Umsätze erwarten lässt.
Ein Unbekannter hat 3 Minuten einer privaten Feier mit Attila Hörbiger und unbekannten Kollegen abgefilmt. Man singt, im Hintergrund spielt ein Piano und damit ist der Copyright-Albtraum für einen Dokumentaristen bereits komplett. Hörbiger wird kein Problem sein, neben allen Darstellern müssen Produzent, Regisseur, des privat gedrehten Streifens, sowie Komponist und Pianist durch "sorgfältige Suche" ausgeforscht werden
Die Position der EU-Kommission
Interessanterweise ist die Position der Grünen hier fast deckungsgleich mit jener der EU-Kommission. Deren ursprünglicher Entwurf war nämlich weit umfassender und deutlich liberaler angelegt, als die nun verabschiedete Version. Wenn ein Werk welcher Art auch immer in einem Mitgliedstaat als "verwaist" eingestuft werde, dann sollte es in allen 27 Staaten automatisch als gemeinfrei ("public") gelten.
Stand jetzt: Die EU-weite Gültigkeit blieb zwar im Text, aber "gemeinfrei" wurde gestrichen. Diese Handschrift zieht sich durch den gesamten Text, zahlreiche weitere Passagen wurden mit Auflagen versehen, die in Summe erst wieder hohe Hürden für Digitalisierung und anschließende Veröffentlichung darstellen.
EU-Reform des Urheberrechts
Wie man in der Kommission mittlerweile darüber denkt, hat sie Anfang der Woche gezeigt. Am Montag hielt die - für die "digitale Agenda" der Union zuständige - Kommissarin Neelie Kroes zu einer umfassenden Reform des Umgangs mit Urheberrechten aufgerufen, denn die derzeit geltenden EU-Regelungen seien hoffnungslos veraltet.
Sie seien 1998 erstellt worden, also zu einem Zeitpunkt als Mark Zuckerberg 14 Jahre war und YouTube noch nicht existierte, sagte Kroes.
20 Millionen freie Europeana
Eine Idee davon, welch ungeheure Vielfalt an Werken bis dato in den analogen Waisenhäusern weggesperrt ist, zeigte der am Mittwoch erfolgte Launch der Onlinedatenbank "Europeana".
In Kooperation mit 2.200 Partnerorgansisationen - Museen, Archiven, Forschungsgesellschaften usw. wurden 20 Millionen Fotos, Bücher, Filmausschnitte, Zeitschriften unter die liberalste aller Creative Commons Lizenzen zur gestellt. 20 Millionen Werke in 29 Sprachen sind unter der "Creative Commons Zero Universal Public Domain Dedication" praktisch ohne Auflagen verwendbar.
Aus Dave Dempseys aktueller Blitzrezension der Europeana: "Rather than rummaging around the online depots of individual libraries and museums, www.europeana.eu gives you an easy way to search and find access to some amazing content.
Der hartleibige Status Quo
Warum es in der Richtlinie zu den verwaisten Werken von Auflagen nur so wimmelt, ist wiederum leicht erklärt. Die Auflagen stammen zum Großteil von Abgeordneten wie Marielle Gallo (EVP, Frankreich), die davor als besonders hartleibige Verfechter des Status Quo bei Urheberrechten aufgefallen waren.
Diese Erschwernisse wurden mit einem denkbar zynischen Argument eingefügt. Man müsse die Rechteinhaber um jeden Preis vor Ausbeutern schützen, die auf dem Rücken der Kreativen Geschäfte mit diesen Werken machen wollen, lautete die Argumentation.
Ein Beispiel aus der Praxis.
Die Erben eines ehemals prominenten Schriftstellers, der langsam in Vergessenheit gerät, wollen Teile seines Nachlasses veröffentlichen, der eine bedeutende Zahl an Film- und Tonaufnahmen enthält. Damit müssen alle anderen Rechteinhaber sorgfältig erforscht werden, vom Regisseur über Kameramann, alle in Bild oder Ton festgehaltenen Personen, Komponisten usw.
Der wahrscheinlichste Ausgang der Sache ist, dass nur ein kleiner Teil oder auch gar nichts veröffentlicht werden kann, weil die Klärung aller Einzelrechte viel zu aufwendig wird.
Die Rechte aller Urheber sind leider so gut geschützt, dass sämtliche Beteiligten der Vergessenheit anheimfallen müssen. Wer hingegen die Rechte an einem zur gleichen Zeit produzierten, erfolgreichen Spielfilm hält, ist völlig klar, wie auch der Umstand, dass der Film jederzeit gegen entsprechende Gebühren gezeigt werden kann. Für die Nachwelt existieren damit nur noch jene Werke, die weiterhin kommerzielle Erlöse bringt, alles andere verwaist.
Der Gegenkurs der Kommission
In der Kommission hat man inzwischen längst erkannt, dass es unter dem gegenwärtigen Urheberrechtsregime keine innovative digitale Informationsgesellschaft spielen wird. Wie der Fall der verwaisten Werke zeigt, wirkt es für all jene Werke verheerend, die aus dem Verwertungszyklus ausgeschieden oder - wie Privataufnahmen - noch nie verwertet worden sind.
Der neue Richtlinienentwurf sieht große Erleichterungen bei transnationalen, europäischen Lizenzen und genaue Abrechnungen im EU-Raum vor. Die nationalen Rechteverwerter werden dabei in die Pflicht genommen, sie seien nicht nur intransparent, sondern auch ineffizient, und obendrein würden Tantiemen, die europäischen Künstlern zustehen, nicht weitergegeben sondern nachgerade systematisch einbehalten, kritisiert die Kommission.
Bereits vor dem Sommer hatte die Kommission einen Richtlinienentwurf veröffentlicht, der einen einheitlichen Rahmen für eine gesamteuropäische Regelung schaffen sollte. Derzeit gibt es in jedem EU-Staat von Videoclips, Filmen, Musik bis zu Texten für jedes Genre zwischen einem halben und zwei Dutzend Verwertungsgesellschaften, die auf nationaler Basis abrechnen. Grenzüberschreitende Verwertung ist bei Werken europäischer Provenienz so die absolute Ausnahme, während sie für US-Produktionen von Filmen wie Musik die Regel ist.
Urheberrechtsnovelle in Österreich
Auch in Österreich wird das Urheberrecht gerade novelliert. Die Richtlinie zu den verwaisten Werken soll darin ebenso ihren Niederschlag finden, wie ein vorhergehender, völlig gegenläufiger EU-Beschluss zur Ausweitung des Copyrights für Musikaufnahmen von 50 auf 70 Jahre. Dieser Beschluss aus dem Jahr 2011 fiel auf Betreiben derselben Abgeordneten, denen die Verschärfungen in der Richtlinie zu den verwaisten Werken zu verdanken sind.