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Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

23. 7. 2012 - 17:05

"Die Versehrten"

Die Bücher des Portugiesen Gonçalo M. Tavares gehören, zumindest wenn es nach den KritkerInnen geht, zur Weltliteratur. Mit "Die Versehrten" ist nun erstmals einer seiner Romane auf Deutsch erschienen.

Die KritikerInnen sind sich einig, Gonçalo M. Tavares stehe bereits auf der Stufe der großen portugiesischen Schriftsteller António Lobo Antunes und José Saramago. Der Literaturnobelpreisträger Saramago selbst zollte Tavares etwa höchste Anerkennung, als er 2005 meinte, Tavares habe kein Recht, im Alter von 35 Jahren so gut zu schreiben und man deshalb Lust bekäme ihn zu schlagen.

In Portugal und in Brasilien werden Tavares' Bücher mit Preisen überschüttet, im deutschsprachigen Raum war er bis jetzt fast unbekannt. Manche haben schon befürchtet, er könnte das Schicksal eines Roberto Bolaño erleiden, der im deutschsprachigen Raum viel zu spät gewürdigt wurde. Mit der Übersetzung des Romans "Die Versehrten" ins Deutsche, soll diese Lücke nun geschlossen werden.

Ein portugiesischer Kafka?

Buchcover von Goncalo Tavares' die Versehrten.

DVA

"Die Versehrten" ist der erste Roman des in Luanda geborenen Portugiesen Tavares, der ins Deutsche übersetzt worden ist. Die Übersetzung ist von Marianne Gareis, erschienen ist der Roman bei DVA.

Das französische Figaro magazine war eine der ersten Zeitschriften, die Tavares zum portugiesischen Kafka gekürt hat. Was Tavares' "Die Versehrten" mit Kafka gemeinsam hat? Am ehesten, dass es ein verstörendes Buch ist, von den ersten Zeilen an, wo zwei der vier ProtagonistInnen eingeführt werden. Ernst Spengler wird von einem penetrant klingelnden Telefon abgehalten, sich aus dem Fenster zu stürzen und Mylia, die Schmerz als zentrales Wort ihres Lebens festgemacht hat, sucht um vier Uhr früh eine Kirche, die noch geöffnet hat.

Auch die beiden anderen Hauptpersonen haben verstörende Erfahrungen hinter sich. Hinnerk bringt aus dem Krieg eine Pistole und ein Trauma mit. Angstzustände hindern ihn am Schlafen, sodass seine Augenringe zu regelrechten Wülsten angewachsen sind. Theodor Busbeck will anfangs nicht so recht in diese Riege passen, später erfährt man, dass der einst hochgelobte Arzt und Forscher einen wissenschaftlichen Fehltritt hingelegt hat, der seine Karriere zerstört hat.

Im Gegensatz zu Kafkas düsteren Romanen wissen diese vier ProtagonistInnen allerdings genau, was sie wollen, und in einer schicksalsvollen Nacht, die den Rahmen des Romans bildet, bewegen sie sich alle aufeinander zu.

Geschichte des Grauens

In Rückblenden erfahren wir mehr über die Hintergründe der ProtagonistInnen, die persönliche Geschichten des Grauens sind. Mylia ist eine schizophrene junge Frau, die ihren Psychiater Theodor Busbeck heiratet. Der angesehene Arzt kann aber nicht zu Mylias Heilung beitragen und weist sie nach einigen Jahren Ehe in eine renommierte Nervenklinik ein. Dort lernt sie Ernst Spengler kennen, einen Mitpatienten und zeugt mit ihm ein Kind. Weil nicht sein kann was nicht sein darf, wird Mylia von Ernst getrennt, das Kind wird ihr weggenommen und sie wird gegen ihren Willen sterilisiert.

Erst Jahre später wird sie aus der Klinik entlassen, findet aber keinen Anschluss mehr an die Gesellschaft und muss nach der verpfuschten Sterilisation mit einer Krankheit leben, die ihr den Tod bringen wird.

Formel des Grauens

Mittlerweile hat Theodor Busbeck sein Opus Magnum vollendet, eine Studie zur Geschichte der Gewalt. Er will verstehen, warum es in der Geschichte zu Gräueltaten kommt, warum eine starke Partei eine schwache dezimiert. Er hat den Holocaust untersucht und weitere Genozide seit Anbeginn der Menschheit, um daraus eine Formel abzuleiten und Gewaltausbrüche vorhersagen zu können und vielleicht zu verhindern. Seine Lebensaufgabe ist es, die Menschen der Welt zu retten, was Mylia zu der provozierenden Aussage verleitet, er wolle ein Heiliger sein. Dabei ist er nicht einmal in der Lage seine eigene Frau vor der Gewalt zu schützen und zu heilen.

Goncalo Tavares vor einem Haufen Bretter und einer Holzleiter

Teresa Sá Berryfield Road 28 SW17 3QE London Grossbritannien Email: lilacdays@gmail.com Telefon: +44 7950 670037

In "Die Versehrten" hinterfragt Tavares, der an der Universität Lissabon Erkenntnistheorie lehrt, die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit und wirft Fragen nach Autoritäten auf. Wer ist krank und wer bestimmt darüber? Wer stellt Diagnosen und wer hat Recht? Theodor hat festgelegt, dass Mylia gesund sei, um sie heiraten zu können und als sie ihm zu fordernd wird, schiebt er sie Nervenklinik ab, in der "Heilung" reine Willkür ist. Dabei wird er mit seinen kruden Thesen zur Gewalt selber vom Wissenschaftsbetrieb als Verrückter abgestempelt.

Der Roman läuft auf einen Showdown hinaus, das unvermeidliche Zusammentreffen der ProtagonistInnen in den dunklen Straßen der Nacht. Dass dies nur negativ enden kann ist absehbar, denn selbst das kleinste Anzeichen von Hoffnung verflüchtigt sich rasch.

In kryptischen, reduzierten Sätzen, die Geschehnisse oft nur andeuten, entwickelt der Roman einen Sog. Losgelassen werden die LeserInnen von dem Buch, das in wenigen Stunden gelesen ist, aber nicht so schnell. "Die Versehrten" ist ein schwieriges Buch mit düsterer Grundstimmung, definitiv keine Strandlektüre.