Erstellt am: 9. 7. 2012 - 18:28 Uhr
Just Relax
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Oh! Ein mittelgroßes, kreisrundes Sonnenblumenfeld direkt neben der Hauptbühne? Der erste Eindruck vom Festival-Gelände war auch gleich die erste Überraschung, viele weitere werden folgen.

Martina Mlcuchova/Pohoda Festival
FM4 - Your Festivalradio
Pohoda ist das größte Festival in der Slowakei, nur drei Zugstunden von Wien entfernt und punktet vor allem mit dem freundlichen und familiären Spirit, der auch schon im Festival-Namen zum Ausdruck kommt. Pohoda bedeutet so viel wie: "something comfortable and chill", "take it easy", "it´s okay", "just relax"… und wird von den Besuchern wirklich wörtlich genommen.

Martina Mlcuchova/Pohoda Festival
Das Flugfeld des verschlafenen, west-slowakischen Städtchens Trencin bietet nicht nur 30.000 Musikfans Platz, sondern auch Kunstinstallationen, Ausstellungen, Theater, Kino, Lesungen und Diskussionen. Auf den sechs Bühnen findet man klassische Musik ebenso wie lokale und internationale Bands vor. In der 16. Festival-Edition waren es z.B. Kasabien, Elbow, Public Enemy, Caribou, Orbital, Emika und Lou Reed.
Donnerstag

Martina Mlcuchova/Pohoda Festival
Letzterer hat am Donnerstag das Festival mit einem Tribut-Konzert für seinen alten, leider schon verstorbenen Freund Vaclav Havel eröffnet. Die Musik von Velvet Underground hatte für die Studenten und Künstler, die zusammen mit dem späteren Staatschef Havel die samtene Revolution im Jahre 1989 eingeleitet haben, eine besondere Bedeutung. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden Lou Reed und Vaclav Havel gute Freunde. Unzählige Anekdoten ranken sich um diese Freundschaft, sei es über das Interview, das Lou Reed mit Vaclav Havel für das Rolling Stones Magazine gemacht hat oder den Auftritt von Lou Reed im Weißen Haus: als Havel als tschechischer Ministerpräsident bei Bill Clinton zu Gast war, durfte er in der Tradition des Hauses die Musik zum Dinner selbst aussuchen und wählte seinen alten Freund in Vertretung von Velvet Underground.
Zwei Videos über die Freundschaft von Vaclav Havel und Lou Reed und die Bedeutung der Musik von Velvet Underground bei der Velvet Revolution findest du hier und hier.
2008 war Havel auch selber beim Pohoda-Festival zu Gast und tausende Besucher lauschten seinem Nachmittags-Vortrag, wie man auch in diesem Video sehen kann. Letzten Dezember ist Havel gestorben und das Pohoda-Team gedenkt an den großen Staatsmann mit einem seiner Theaterstücke, einer Dokumentation über sein Leben und dem Konzert seines Freundes.

Martina Mlcuchova/Pohoda Festival
Nach dem ersten Festival-Pflicht-Regen streicht Lou Reed wie ein trockener, aber trotzdem erfrischender Passat über unsere Köpfe hinweg: "Walk on the Wild Side" oder auch die Folk-Elegie "Heroin" fehlten nicht im Konzert-Kanon, der bis zur aktuellen Metallica-Kollektion reicht, die unschwer durch ihre Schwere ("I´m the Agressor!") auszumachen ist. Wortkarg, aber weniger grumpy als erwartet, scheint er den Austausch mit den sieben Musikern zu genießen: der Schlagzeuger schneidet Grimassen und zeigt uns die Zunge, der Geiger zerfiedelt hingebungsvoll seinen Bogen, der zweite Gitarrist strahlt weiß wie der Mond und in Reeds furchigem Gesicht verschieben sich die Talsohlen nach Norden. Ist das der Hauch eines Lächelns?

Katarina Acel/Pohoda Festival
Danach wirft der fantastische Kanadier Daniel Snaith als Caribou den Elektromotor in dem überdimensionalen, blauen Zelt namens "The Dome" an. Und weil das Caribou ein Herdentier ist, hat sich Snaith auch drei weitere Musiker eingeladen, die mit ihm über die slowakische Steppe traben und dabei mächtig Wirbel machen, auf dass kein Grashalm mehr auf bzw. neben dem anderen bleibt. Nach einem filigranen, elektronischen Beginn werden die Gitarren fester um die weißgewandten Körper gezurrt und das Konzert entlädt sich in einem atmosphärisch-dichten heavy Funk-Feuerwerk, bei dem neben, eh klar, Odessa und Sun, auch der Remix von Virgo Four´s "It´s a Crime" wie eine Schlurfrakete in den schwülen, dunkelblauen Nachthimmel geschossen wird. Auch wenn man sie schon längst aus den Augen und Ohren verloren hat, schaut und summt man ihr noch lange nach.

Martina Mlcuchova/Pohoda Festival
Freitag
Eine unwirkliche Sonne lauert hinter jedem Schatten am Freitagnachmittag, der Asphalt klebt an den Flip Flops und erste Sturmwarnungen werden laut. Beim Konzert von Aloe Blacc beginnt das Wetterleuchten, die ersten Regentropfen werden jubelnd auf den sonnenverbrannten Körpern empfangen und gerade als er seinen Hit "I need a Dollar" anstimmt, wird das Konzert abgebrochen. Aloe Blacc dirigiert das Publikum zum hinteren Bühnenausgang, wo er mit Megafon, Rassel und unbändiger Publikumsbeteiligung den Song beendet. Ein schönes Bild, wie ihm da die Herzen und Stimmen im Sturm zufliegen. Danach werden die Massen vom Winde verweht und die Welt geht unter, als würde Sauron höchst persönlich vorbeischauen.
Doch nach 1,5 Stunden hat sich der Himmel wieder beruhigt. Auf dem gesamten Gelände wurden die Konzerte rechtzeitig abgebrochen. Die Organisatoren haben aus dem Jahr 2009 gelernt, als ein Windstoß ein riesiges Zelt ausgehoben hat und bei dessen Aufprall zwei Menschen gestorben sind und viele weitere verletzt wurden. Der Schock von damals sitzt immer noch tief und als Andenken an die Opfer wurde auch das Sonnenblumen-Feld neben der Hauptbühne gepflanzt.

Martina Mlcuchova/Pohoda Festival
Dort geben nach dem Sturm Elbow ihre Slowakei-Premiere mit einem verträumten, leicht melancholischen Konzert. Britische und slowakische Fahnen wiegen sich im gnädig lauen Post-Gewitterwind und auf der Bühne dampft Nebel wie aus den Kühltürmen des AKW Bohunice, das sich gleich in der Nähe befindet.
Eine Bühne weiter verzaubert die Pianistin und Autoharp-Virtuosin Natasha Khan alias Bat for Lashes das Publikum. Sie spinnt ein samtenes Geschmeide aus tief unter die Haut gehenden Noten und Gesangsfäden. Zum ersten Mal wünsche ich mir, dass das nette, aber zurückhaltende Pohoda-Publikum etwas mehr aus sich heraus gehen würde. Bat for Lashes hätte sich das verdient und beendet das Konzert mit ihrem Hit "Daniel".

Martina Mlcuchova/Pohoda Festival
Von Kasabian kann man kaum noch etwas sehen, so voll ist es mittlerweile vor der Hauptbühne. Aber egal, ich gehe Autodrom fahren im Pohoda-Mini-Prater, hol mir was zum essen, schau zum Old-School-Reggae von den Jamaican Legends rund um Ernst Ranglin und Monty Alexander, bis mir die eine bekannte Melodie aus dem Off verrät: Orbital fängt an!
Im Dome tanzen schon die Ersten, genauso wie die Lichtkegel auf den Brillen der beiden Briten, die während dem Konzert mit erheblichen technischen Problemen zu kämpfen haben: am Tag zuvor hat ein Unwetter ihr gesamtes Equipment unter Wasser gesetzt. Deshalb müssen manche Presets neu eingestellt werden, was zu lästigen Verzögerungen führt.
Doch bis auf die Pausen und dem schrecklichen Katzenjammer von Lady Leshurr in "Wonky" war das Konzert alles andere mau. Neben den neuen Nummern und alterslosen Schönheiten wie "Belfast" und "Chime" schummelten die Brüder Paul und Phil Hartnoll auch Loops von Opus III "Fine Day" oder Belinda Carlise‘s "Heaven is a Place on Earth" in das Set, das erst nach drei Zugaben und entzückenden Dankesbekundungen der Beiden sein Ende fand.

Katarina Acel/Pohoda Festival
Obwohl schon müde, schau ich noch bei Emika vorbei und bin froh, denn die Wahlberlinerin mit tschechoslowakischen und englischen Wurzeln ist wohl das Highlight des Abends. In ihrer Musik kombiniert sie Elektronik mit Klassik und erklärt uns diese Synthese damit, dass sich auch in ihr zwei unterschiedlichen Kulturen verbinden. Ganz locker und humorvoll, selbstbewusst und erotisch steht sie hinter dem Synthesizer und Effektgerät, spielt dunklen Downtempo-Dubstep und auch mit dem Publikum. Ganz artig fragt sie uns, ob wir nicht auch eine ihrer Opern-Kompositionen hören wollen. Natürlich wollen wir! Tolles Konzert, tolle Frau!
Samstag
Auch am dritten Tag wundere ich mich noch immer, wie rücksichtsvoll hier miteinander umgegangen wird, verglichen mit den etwas rauheren Sitten diverser heimischer Veranstaltungen. Je nach flüssiger Liquidationsbereitschaft begrüßen die jungen Slowakinnen und Slowaken die österreichische Festival-Kultur als "exciting" oder finden sie eher befremdlich und titulieren sie höflich als "exotic".

Lena Kusnierikova/Pohoda Festival
Es ist nicht so, das beim Pohoda nicht getrunken wird, nur ist hier kaum jemand zu wie ein Lebensmittelladen am Sonntag.
Mehrere Trinkwassertanks spenden gratis die dringend notwendige Flüssigkeit in der flirrenden 35 Grad heißen Wiesen- und Asphaltglut, zwei umfunktionierte Schneekanonen dienen als überdimensionale Körperbefeuchter.

Martina Mcuchova/Pohoda Festival
Die in neongelben Warnwesten gekleideten Crowd-Assistants winken in jedem Bühnengraben mit Sodaflaschen und Bechern und schenken lächelnd das Wasser her. Will sagen - hier kümmert man sich in erster Linie um die Besucher und nicht um den Umsatz, deshalb ist die Stimmung im ganzen Festivalzirkus ausgezeichnet.

Martina Mlcuchova/Pohoda Festival
Allerdings sind die Tickets für die eher einkommensschwache slowakische Bevölkerung nicht gerade billig: 99 Euro kostet ein drei-Tages-Pass und für viele kommt das Pohoda einem Sommerurlaub gleich, für den jedes Jahr gespart werden muss. Und durch das extra Kinderprogramm ist es auch für zahlreiche Jung-Familien ein beliebtes Ausflugsziel. Der Camping-Platz verdient den Namen "Green" nicht nur in Punkto Sauberkeit, sondern auch wegen der Lautstärke. Geht man um vier Uhr morgens an der direkt auf dem Festivalgelände gelegenen Zelt-Stadt vorbei, hört man kaum etwas: hier gibt es keine fetten Anlagen, keine Lagerfeuerromantik mit verstimmten Gitarren und verstimmenden Gröhl-Chorälen oder somnambul herumirrenden Gestalten.

Martina Mlcuchova/Pohoda Festival
In der Samstagnacht strahlen leider nicht so viele musikalische Glanzlichter wie die Tage und Nächte zuvor. Emiliana Torrini und "My heart beats like a jungle drum",... Oh weh, in meiner Erinnerung hab ich diesen Song schon verdrängt und ihn erfolgreich Nelly Furtado angedichtet. Danke fürs Update, Emiliana! The Kooks sind auch relativ fad, deshalb hoffe ich, dass beim Karussellfahren so etwas wie ein Adrenalin-Kick einsetzt. Fehlanzeige! Dennoch ist der Blick auf das gesamte Festival-Areal aus geschätzten 25-Metern-Höhe großartig.
Ja, dann wären noch die Headliner dieser Nacht - Public Enemy, die sich ganz schön bitten lassen, bevor sie wirklich loslegen. "Raise your Fist for the Real Hip Hop" wurde so oft wiederholt, dass es schon unangenehm wurde. Was ist los mit euch? Wir haben es schon verstanden!
Dachte ich zumindest, mein Aha-Erlebnis sollte noch kommen.

Lena Kusnierikova/Pohoda Festival
Die PE-Inszenierung im riesigen, blauen Zelt funktioniert wie ein Druckkochtopf: zuerst sieht man nur die Band auf der Bühne, Professor Griff treibt sich irgendwo unsichtbar am Bühnenrand herum, dann kommt ein junger, mir nicht näher bekannter MC, dann zwei Captain-Jack-Tänzer, dann eine halbe Stunde später betritt Chuck D endlich die Bühne, gefühlte zehn Minuten später Flavor Flav. Nach seinen Ausflügen ins Reality-TV konnte ich ihn nicht mehr ernst nehmen, doch dank seiner Live-Performance hat er wieder an Credibility gewonnen. Die angestrebte PE-Eruption geht allerdings in dem Sound-Matsch unter, was mehr als Schade aber den Meisten mehr als egal ist. "Jump, jump, jump,… Don´t believe the Hype and raise your fist for the Real Hip Hop!"
Doch Public Enemy kann die Realness noch so oft beschwören, vor dem Zelt lauert schon der Enemy in der Gestalt von Chase & Status, die ich letztes Jahr am Frequency Festival noch wohlmeinend als "DnB-Act mit erfrischendem Pop-Appeal" bezeichnet habe. Mittlerweile haben sich Chase & Status in eine Cross Over Cover Band inklusive MC, Schlagzeuger und Gitarristen verwandelt, die bekannte Pop-Melodien, Indie-Rock-Riffs und Rap-Lyrics mit billigen Dub-Step-Elementen versehen und versauen. Wie der Elefant im Popkultur-Porzellanladen trampeln sie auf den Beastie Boys, Rage Against the Machine, den Red Hot Chilli Peppers uvm. herum und sind dafür verantwortlich, dass ich bei dem sonst so positiven Pohoda Festival doch noch richtig aggressiv werde.

Katarina Acel/Pohoda Festival
Der junge talentierte Brite Archy Marshall aka King Krule versöhnt mich dann wieder mit der Musik. Am Heimweg sehe ich, dass auf den Schultern mancher Besucherinnen Sonnenblumen schlafen, die dabei müde ihre Blätter hängen lassen. Jetzt hat man sie doch noch gepflückt, aber zu Erinnerungszwecken wurden sie ja schließlich auch gepflanzt.