Erstellt am: 6. 6. 2012 - 23:17 Uhr
Slave to the Pageant
Ein guter Freund fragt mich, warum ich eigentlich nichts zum Krönungsjubiläum geschrieben habe.
Es gibt eben Dinge, über die zu schweigen einen akkurateren Ausdruck der Gleichgültigkeit ihnen gegenüber vermittelt, denn sie zu bespötteln oder zu beklagen. Abgesehen davon tat der Regen eh das seine.
Dachte ich zumindest, bis dann vorgestern diese Geschichte hier im Guardian erschien: Unemployed bussed in to steward river pageant.
Wie sich herausstellt, waren in der Nacht vor dem verregneten Bootskorso auf der Themse Busladungen von arbeitslosen „Freiwilligen“ aus Bristol, Bath und Plymouth nach London geführt wurden, um dort als Aufpasser zu arbeiten: Manche davon ganz ohne Lohn (um nicht ihre Arbeitslose zu verlieren), andere gegen Zahlung eines sogenannten „apprentice fee“*, also „Lehrlingslohns“, von umgerechnet etwa 3 Euro 45 pro Stunde.
* Eine interessante Anwendung des Wortes „apprentice“, dessen Gebrauch dank einer gleichnamigen, populären BBC-Serie, die ausschließlich von der öffentlichen Demütigung junger MöchtegernunternehmerInnen durch einen mächtigen Investor lebt (Catchphrase: „You're fired“), ohnehin schon reichlich verfremdet wurde. Wie es die hämische Ironie des Zufalls/BBC-Sendeplans wollte, lief am Abend der Jubiläumsflottille zur Feier eine Sonderausgabe von The Apprentice im Fernsehen.
Jene 50 Leute, die sich unter Risiko des Verlierens ihrer Beihilfen lieber für den Hungerlohn entschieden, erfuhren übrigens erst beim Einsteigen in den Bus in Bristol, Bath und Plymouth, dass dieser ansonsten 10 Pfund Stundenlohn werte Job bloß als eine Art Lehrausgang betrachtet würde; eine Chance sich tauglich zu erweisen, denselben Dienst auch bei den kommenden Olympischen Spielen zu versehen.
Auch dort will nämlich die Security-Firma Close Protection UK für Sicherheit sorgen. Wie gut die organisiert ist, war am Freitag beim Bötchen-Auflauf der Königin zu bemerken. Die Schilderungen der Ereignisse gehen naturgemäß auseinander:
Während einige der Stewards berichten, man habe sie bei Ankunft in London im strömenden Regen um drei in der Früh aufgefordert, ihre Zelte unter der London Bridge aufzuschlagen, dementiert dies Close-Protection-Chefin Molly Prince und beruft sich auf einen unschuldigen logistischen Fehler:
Die Busse seien Stunden früher als geplant in London angekommen.
Keine Ahnung, inwiefern das die Frage beantworten soll, wo die Stewards ihre Nachtruhe vor einem extrem schweren, 16-stündigen Arbeitstag herkriegen sollten. Alle Stewards seien gut „genährt“ worden, was Berichten der Betroffenen zufolge bedeutete, dass sie im Morgengrauen ein Päckchen Chips und einen Sandwich in die Hand gedrückt kriegten – mit dem Hinweis, dies lukullische Mahl besser noch nicht zu vertilgen, das sei nämlich bereits das Mittagessen.
Laut der Story des Guardian mussten sich die un- und minderbezahlten Stewards dann auch noch im Freien umziehen. Bis kurz vor Mittag gab es nicht einmal Toiletten.
In den Postings unter der Guardian-Story berichtete eine Frau, die sich als die Mutter einer der Arbeitslosen bezeichnete, ihre Tochter habe sie in Tränen angerufen. Sie friere und habe blutige Füße, traue sich aber nicht nach Hause zu fahren, weil das Arbeitsamt sonst ihre laufende Ausbildung annullieren würde.
Die Vermittlung dieses „Jobs“ erfolgte übrigens nicht übers Arbeitsamt, sondern über eine von einer konservativen Baroness geleitete, auf die Vermittlung von Arbeitslosen im Rahmen des Workfare-Programms der Regierung spezialisierte Wohltätigkeitsorganisation mit dem Namen Tomorrow's People, die ihrerseits Förderungen von 3 Millionen Pfund erhält.
Close Protection by Tomorrow's People, das klingt wie eine cheesy Charts-Disco-Single aus den Siebzigern, ist aber der blanke Orwell in Plateausohlen, gemischt mit einer Dosis 18. Jahrhundert.
Wie im Namen des Beschäftigungsprogramms der konservativ-liberalen Regierung am untersten Ende der Verdienstskala systematisches Lohndumping betrieben wird, habe ich im Februar hier schon beschrieben.
Seit Einführung des Workfare-Programms ist bereits genug Zeit vergangen, um eine gewisse Einstellung gegenüber den Gratisarbeitskräften zu etablieren, irgendwo zwischen Nutzvieh und Hauselfe.
Der selbst dem Patriziertum entstammende Premierminister meines Gastlandes sagt, es handle sich offenbar nur um einen Einzelfall. Er lebt in einer feudalen Parallelwelt, in der seinesgleichen dem Gesinde eine gewisse Portion Gnade gönnt. Diese Welt hat es freilich nie gegeben.
Natürlich ist diese Geschichte vor allem deshalb so symbolträchtig, als sich dieser Fall der Ausbeutung von Arbeitslosen ausgerechnet bei der öffentlich finanzierten Jubiläumsfeier zu Ehren einer der reichsten Personen des Vereinten Königreichs (Platz 257 in der Times Rich List) bzw. der größten BezieherInnen von öffentlichen Beihilfen (8,6 Millionen Euro EU-Agrarsubventionen pro Jahr für ihren Sandringham Estate) zutrug.

Robert Rotifer
Das Prinzip der unbezahlten Arbeit unter existenzieller Not ist indessen längst in den britischen Alltag eingedrungen.
In den Medien werden die Briten der letzten 60 Jahre neuerdings als "New Elizabethans" tituliert.
Selbst wenn die Regression der Gesellschaft in diesem Tempo weitergeht, ist's zu altelisabethanischen Zuständen noch eine Weile hin. Im Moment halten wir ungefähr bei Victoria.
Hauptsache, einer wie Tony Parsons hat noch die Muße, die dümmste Kolumne der Welt zu schreiben (Vorsicht, es tut sehr weh).