Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Zehn Theorien zum Anstandsbissen"

Marc Carnal

Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, hat die bessere Luft. Lach- und Sachgeschichten in Schönschrift.

13. 5. 2012 - 12:36

Zehn Theorien zum Anstandsbissen

Eier, Butter, Bier - Texte zu Einkaufslisten unbekannter Provenienz (20)

marc carnal

Marc Carnal, der schönste Mann von Wien, sammelt seit geraumer Zeit Einkaufslisten.

Unterstützt wird er dabei von einem stetig wachsenden Kreis an redlichen Helfern, die ihn regelmäßig mit am Wegesrand oder in Supermärkten aufgelesenen Zettelchen beliefern, auf denen Fremde seltsame, amüsante, wirre, ungesunde oder fragwürdige Gedankenstützen notiert haben.

Zu diesen teils zauberhaften Stichwortsammlungen verfasst Herr Carnal dann Texte und trägt diese zwischendurch auch öffentlich vor.

Termine findet man hier.

marc carnal

Kürzlich traf ich den sympathischen Herrn Gram, der zwei Einkaufslisten gefunden hatte und so freundlich war, sie mir im Rahmen einiger Biere persönlich zu übergeben. Eine davon ist eher im Bereich To-do-Liste anzusiedeln. Der Autor schien beim Verfassen der Vorderseite noch unsicher zu sein, ob er Brimsen kaufen soll, auf der Rückseite manifestiert sich die Möglichkeit der Brimsen-Besorgung aber zur Unverzichtbarkeit.

marc carnal

Wir fanden die Liste ein bisschen köstlich, mussten uns allerdings eingestehen, keine Ahnung zu haben, was genau Brimsen sind oder ist. Der Singular ist korrekt, am nächsten Tag recherchierte ich und weiß nun, dass es sich um einen Streichkäse aus den Karpaten handelt.

Gut war, dass wir nicht sofort unsere schlauen Telefone zückten, um unsere Wissenslücke googelnd* zu schließen, sondern ein bisschen spekulierten.

*Das Partizip I von "googeln" - eine Rarität!

Ein großer Nachteil der Multifunktionalität von Mobiltelefonen ist, dass anregende Gespräche häufig zerrissen werden, weil irgendwer irgendwas nicht weiß und ein anderer deshalb schnell im Netz nachschaut. Doch häufig gemahnt die Verbindungsgeschwindigkeit in Lokalen an Zeiten, als beim Einwählen ins Internet noch von Surren unterbrochene Melodien erklangen. Dann wird auf den Touchscreen gestarrt und gewartet. Schön ist das nicht.

Vor einigen Tagen saß ich mit Herrn und Frau Wurm, den Masterminds der ARGE Einkaufsliste, an der schönen Donau und wir fragten uns, warum in Restaurants manche Gäste einen Anstandsbissen auf ihrem Teller hinterlassen. Ein kurzer Blick auf das Smartphone hätte unsere Frage beantwortet, doch wir bevorzugten heiteres Mutmaßen.
Davon inspiriert verfasste ich anschließend

Zehn Theorien zum Anstandbissen

1.

Man möchte den Koch auf eine spezielle Fehlleistung hinweisen – Besonders knorpelige und flachsige Fleischstücke oder halbrohes Gemüse werden als stummer Tadel in die Küche zurückgeschickt, um den Verantwortlichen durch die Konfrontation mit den offensichtlichen Verfehlungen in Verlegenheit zu bringen.

2.

Die Tradition beruht auf einer mittelalterlichen Sitte, welche die Anteilnahme mit den schlecht bezahlten Hilfskräften der Küche zum Ausdruck brachte. Der sogenannte „Tisch-Zehent“ bot in früheren Zeiten dem gesamten Personal von Gaststätten die Möglichkeit, am festlichen Mahl zumindest symbolisch teilzuhaben.

3.

Ein Speiserest lädt den Koch dazu ein, den feilgebotenen Fraß „doch am besten mal selbst zu probieren“, verdächtigt ihn also, sich der Minderwertigkeit des Gekochten gar nicht bewusst zu sein.

4.

Bis ins 18. Jahrhundert waren Messer zu Tisch noch nicht weit verbreitet. Man aß ausschließlich mit Gabeln. Wollte man dem Kellner signalisieren, dass man fertig diniert hatte, konnte man also nicht, wie heute üblich, das Besteck parallel auf den Teller legen. Die übrig gelassenen Speisen dienten also dazu, eine Linie am Teller zu formen, zu der man die Gabel parallel drapieren konnte. Mit Spargel war das beispielsweise einfach, mit Soßen oder Reis musste man schon etwas basteln, bis sich eine längliche Form ergab, die in Kombination mit der Gabel eindeutig „Fertig!“ bedeutete.

5.

Der Gast möchte unterstreichen, dass er kein Vielfraß ist, schlingt also nicht den gesamten Inhalt des Tellers hinunter, sondern zeigt, dass er sich zu mäßigen weiß.

6.

Der Gast möchte dem Koch mitteilen, dass die Speise genau richtig portioniert war, weil ein leer geleckter Teller auch bedeuten könnte, dass die Quantität ausbaufähig sei.

7.

Der Gast möchte demonstrieren, dass er beruflich erfolgreich und äußerst geschäftig ist, also bitteschön keine Zeit hat, das Mahl in aller Ruhe aufzuessen.

8.

In früheren Zeiten war es in der Gastronomie nicht selbstverständlich, dass Teller nach Gebrauch ordnungsgemäß gereinigt wurden. Putzte ein Gast die Portion zur Gänze weg, wurde der halbwegs sauber wirkende Teller einfach für den nächsten Besucher verwendet. Ein kleines Speise-Rudiment gewährleistete also, dass man sich in der Küche gezwungen sah, den Teller tatsächlich abzuwaschen.

9.

Die Sitte ist auf einen Kreis fortschrittlich denkender Fürstenhäuser des 16. Jahrhunderts zurückzuführen: Während zuvor die am Tisch Versammelten nur so lange wie der Ranghöchste speisen durften, widersetzten sich progressive Herrscher dieser Gepflogenheit und ließen stets einen kleinen Rest auf ihrem Teller, um den Anwesenden eine zeitlich unbegrenzte Nahrungsaufnahme zu ermöglichen.

10.

Der Ursprung der Gepflogenheit liegt sehr weit zurück: Als der Großteil der Bevölkerung des Schreibens noch nicht mächtig war, konnte man Essensbestellungen nicht notieren. Also wurde man in Gaststätten dazu angehalten, in Gläsern und auf Tellern stets genug übrig zu lassen, damit das Personal im Nachhinein noch wusste, was man konsumiert und zu bezahlen hatte.

P.S.:

Bevor Sie mich nun mit der Wahrheit belästigen und mir den tatsächlichen Hintergrund des Anstandsbissens verraten, schlage ich Ihnen vor, sich von obiger Erledigungs-Liste inspirieren zu lassen und anlässlich des heutigen Festtages Ihrer Mutter einen liebevollen Brief zu schreiben, den Sie ihr anschließend persönlich überreichen!