Erstellt am: 2. 4. 2012 - 16:46 Uhr
Out of the blue
Den ganzen Tag könnte man herziehen über die Ungerechtigkeit des britischen Wahlrechts, und täte man das, man hätte danach garantiert seine Ruhe vom Rest der Menschheit, so spannend ist das.
Das Phänomen der „by-election“ ist allerdings fraglos eine seiner unterhaltsameren und auch positiven Eigenheiten.
Nämlich: Wenn einE AbgeordneteR krank wird oder stirbt oder die Lust verliert und somit aus dem Unterhaus ausscheidet, gibt es in ihrem/seinem Wahlkreis eine exklusive Mini-Unterhauswahl, bei der einE neueR ParlamentarierIn bestimmt wird.
Neulich hat Marsha Singh, der Labour-Abgeordnete für Bradford West, aus Gesundheitsgründen seinen Platz auf den wulstigen grünen Lederbänken in Westminster geräumt und damit eines jener regionalen Scharmützel ausgelöst, bei denen traditionell die regierenden Parteien eine auf die Mütze kriegen.
Haben sie auch. Angeschlagen durch die öffentliche Wirkung der forcierten Privatisierung des Gesundheitssystems zugunsten privater Profiteure oder der fünfprozentigen Einkommensteuersenkung für die BestverdienerInnen, begleitet vom Schnalzen von Mehrwertsteuer auf essentielle Fixpunkte der Working Class-Existenz wie warme Bäckereiprodukte und stationäre Wohnwagen, oder der Rückkehr in die Rezession im letzten Quartal oder einer völlig selbstverschuldeten Benzinversorgungspanik (ein Minister rief zum Hamstern auf, weil die Tankwagenfahrergewerkschaft die Möglichkeit eines künftigen Streiks in Aussicht stellte), sackten die Konservativen um satte 22 Prozent auf insgesamt 8,4 Prozent ab. Ihre liberaldemokratischen PartnerInnen hatten nicht so viel zu verlieren und schafften es bei einem Verlust von 7,1 auf insgesamt 4,6 Prozent.
Wenn Westminster ungeniert von "the white vote" spricht...
Aber dass die Regierungskoalition in einem Wahlkreis insgesamt nicht mehr als 13 Prozent einfährt, war am nächsten Tag nicht das Thema in Britanniens Medienlandschaft, sondern der gleichzeitige Verlust von 20,3 Prozent für die seit Ewigkeiten auf einen Sitz in Bradford West abonnierte Labour Party zu Gunsten der Fraktion Respect, angeführt vom schottischen Ex-Labour-Außenborder George Galloway.

Robert Rotifer
nährt sich an der Heuchelei des Mainstream]]
Der Mann, den sie Gorgeous George nennen, obwohl sich sein legendäres Charisma rein optisch nicht erklären lässt, bis man ihn beim Redenschwingen oder Debattieren (hier mit dem US-Senat) erlebt hat, ist persona non grata im politischen Mainstream, vom Boulevard wegen seiner Freunde im arabischen Raum verteufelt und verlacht (insbesondere nach seinem Auftritt als schnurrende Katze in Celebrity Big Brother).
Dass er die Maschinerie der drei großen Parlamentsparteien schlagen und aus dem Stand rund 56 Prozent der Stimmen erringen konnte, hat seit Verkündung des Wahlergebnisses Donnerstag Mitternacht allerhand Schnellschussanalysen inspiriert.
Vonseiten Konservativer, die der schlecht beratenen Versuchung folgten, von ihrem eigenen Popularitätstief auf Labours Misere abzulenken.
Vonseiten der Libdems, die plötzlich äußerst bedenklich von einem Fernbleiben des „white vote“ zu reden begannen, ohne sich zu fragen, warum sie selbst für die nicht-weiße Wählerschaft offenbar so unwählbar sind.
Vonseiten jener Labour-PolitikerInnen, die von „speziellen lokalen Umständen“ sprachen und damit ebenfalls die zu 38 Prozent aus moslemischen Einwandererfamilien zusammengesetzte Bevölkerung dieses Teils von Bradford meinten. So als stünde ihr eigener, nach der Wahl sofort abgetauchter Kandidat Imran Hussain jener Community von Natur aus ferner denn George Galloway.
Und vonseiten des Medien-Establishments, das diesen Erdrutsch so gar nicht kommen sah. Nun heißt es, die Leute in Bradford hätten sich immer noch nicht mit dem Irak-Krieg und der laufenden Besetzung von Afghanistan abgefunden, gegen die Respect genauso konsequent eintritt wie gegen das von Großbritannien unterstützte Säbelrasseln in Richtung Iran. Da ist sicher was dran, aber warum hätte sich dieser Effekt nicht bereits vor zwei Jahren bei den letzten Wahlen geäußert, geschweige denn bei den Wahlen 2005?
"Pakistanische Dorfpolitik" in britischen Städten?
Besonders schockierend liest sich Michael White vom Labour-nahen Guardian, der es eigentlich besser wissen sollte, nachdem er den am Dienstag erschienenen Artikel seiner Kollegin Helen Pidd lobt, die als einzige im Vorfeld einen möglichen Sieg Galloways ankündigte. Um zu dieser Einschätzung zu kommen, hätte er, White, sich zugegebenermaßen eben selbst nach Bradford begeben müssen. Galloways Geschick liege wohl darin, dass er „weiß, wie die Dynamik von pakistanischer Dorfpolitik auf britische Städte umgesetzt funktioniert.“
Das tut weh. Wer nämlich Helen Pidds Geschichte liest, wird ihr entnehmen, dass es vielmehr die örtliche Labour Party war, die mit Stammbäumen Politik machte, während Galloway offen gegen diese Art Community-interner Nepotismen auftrat.
Wenn er Pidds Artikel auch beim reuigen zweiten Lesen nicht verstehen will, sollte White vielleicht bei einem anderen Kollegen, dem Wirtschaftsjournalisten Larry Elliott nachlesen, der in seiner gestrigen Analyse mit einigen ernüchternden Daten jene offensichtlichen Gründe für Galloways Triumph untermauert, die einfach viel zu nahe liegen, als dass ihre Kunde in der außerweltlichen Blase von Westminster je ankommen könnte.
Kurz gesagt: Während der privilegierte Süden Englands sich mehr schlecht als recht durch die Krise wurstelt, sieht es in nördlichen Städten wie Bradford so grimmig aus, dass begabte Populisten wie George Galloway gegen die weltfremden Großparteien ein leichtes Spiel haben. Zumal dort, wo New Labour mit Jobs für den öffentlichen Sektor die durch das Sterben der Industrie im Norden seit der Thatcher-Ära entstandenen Löcher füllte, die konservativ-liberale Regierung diese mit ihrem rabiaten Sparprogramm wieder aufreißt.
Was die auf Kaufkraft angewiesene Dienstleistungswirtschaft der Blair-Ära wiederum völlig ausblutet.
Die Legenden von der "Recovery", angetrieben von einem privaten Sektor, der auf magische Weise dort erblüht, wo der öffentliche Sektor gekürzt wird, glaubt in einer Stadt wie Bradford längst keiner mehr. Und Labours Zustimmung für die existenzbedrohenden Sozialkürzungen mit dem Zusatz „not so far and not so fast“ klingt nicht wirklich nach einer erfrischenden Alternative.
Mein Eindruck von der Stimmung im Norden ist zugegebenermaßen geprägt von meinem heutigen Treffen mit Richard Hawley, der bei sich zu Hause in der ebenfalls von der Krise gebeutelten Stahlstadt Sheffield ähnliche Tendenzen der Verzweiflung beobachtet wie in Bradford. „Da kommt noch was auf uns zu“, sagte er, mehr als einmal, „und es wird nicht lustig.“
Die Londoner Riots im letzten August kamen schließlich auch völlig überraschend für das urlaubende Establishment. Und dieses bezeichnende Foto hier habe ich nicht irgendwo im Norden geschossen, sondern in Walthamstow, einem großteils verarmten Winkel Nordost-Londons, unweit der neugebauten olympischen Anlagen. „Spezielle lokale Umstände“ gibt es nicht nur in Bradford West.

Robert Rotifer