Erstellt am: 24. 3. 2012 - 13:36 Uhr
Job done
Gar nicht so einfach, die Eindrücke vom letzten Sonntag aus meinem Emmentaler-Hirn zu quetschen, aber ich bin seither schlicht nicht dazugekommen, sie niederzuschreiben: Paul Weller im Roundhouse zu Camden beim ersten von fünf ausverkauften Konzerten zur Vorstellung seines jüngsten Albums „Sonik Kicks“, gesehen aus Ideal-Perspektive links neben der Bühne, direkt hinter dem Gitarrenroadie.
Das erste Set, eine Komplettaufführung des neuen Albums vor einem Publikum, das jenes bis auf zwei, drei Songs noch nicht gehört hat, inklusive diverser Zwischenspiele, unterbrochen nur von einer einzigen Zwischenansage: „First night nerves“, sagt Weller nach dem Fehlstart von „That Dangerous Age“.
Eine Band wie ein Trupp von Gerüstarbeitern, die einander über Stockwerke hinweg Eisenstangen zuwerfen
Ich hab in meinem Leben schon einige Bands auf der Bühne gesehen, aber nie so eine organisierte kleine Musikarmee, die mit offensichtlich größter Konzentration und Ernsthaftigkeit ein derart technisch komplexes Manöver abspult und dabei gleichzeitig die rundesten Grooves erzeugt, von der elektrischen Polka in „Kling I Klang“ bis hin zum keinen Takt zu lange dauernden Dub-Workout am Ende von „Study in Blue“. Sogar Gitarrist Steve Cradock, der in der dekadenten Phase der Spätneunziger seine Narrenfreiheit hin und wieder ganz schön zu missbrauchen pflegte, setzt mit seinem Plektrum diszipliniert Puzzlesteine in die vorgesehenen Lücken.
Nein, der Armeevergleich ist nicht nur ein unsympathischer, sondern auch der falsche, denn Weller agiert nicht als Napoleon bzw. James Brown, schon eher als der Vorarbeiter eines Trupps von Gerüstarbeitern, die einander in erprobter Choreographie über Stockwerke hinweg Eisenstangen zuwerfen.

Paulweller.com
Eine Reihe blankpolierter Two-Tone-Brogues steppt für die Gesangspassagen nach vor in Richtung der Mikroständer (kein Galgen, alle schnurgerade, damit der Blick immer nach vorne gerichtet ist), dann wieder zurück in Richtung der unter dem Schlagzeugpodest säuberlich aufgereihten Verstärker- und Boxen-Wand, hin und wieder klatscht die mitlaufende Harddisk Samples wie fette Farbkleckse über den dichten Bandsound.
„Thicker than the brushstrokes of fame“, wie Weller in „When Your Garden's Overgrown“ singt, auch wenn er damit was völlig anderes meint. Aber in dem Moment, da diese Zeile fällt, macht sie bewusst, wie wenig es bei dieser Performance um den alten Pfau selbst geht.
Dabei ist seine Erscheinung allein schon einen Absatz oder zwei wert: Es ist allgemein üblich, Wellers Look unter dem M-Wort zu subsummieren, aber ehrlich gesagt hat nichts daran, was er trägt, irgendwas damit zu tun, was je als Mod durchgegangen wäre. Der graue Nadelstreif-Zweireiher mit Glockenhosen, zweifärbigem Schuhwerk, ausladendem Stecktuch und breiter Seidenkrawatte erinnert eher an das Frühsiebziger-Mobster-Revival der Bonnie & Clyde-Nostalgie-Phase, und der silberne Vokuhila, wie mein Freund Ian kichernd aber korrekt bemerkt, an Bruce Foxton, dessen Nackenmatte nicht ohne Grund immer als latenter Stilbruch im Image von The Jam galt.
Was mich wiederum zu einem kurzen Rundblick ins Publikum verleitet, wo die eine oder andere Lookalike-Coiffure sich mit karierten Hemden und viel Jeans kombiniert. Irgendwann in den letzten 15 Jahren hat sich der vom Mod-Revival übrige sektenartige Rest offenbar zu seiner eigentlichen Antithese, nämlich einer völlig affirmativen Variante des Rock-Fundamentalismus transformiert. Und prompt stürmt gegen Ende des „Sonik Kick“-Sets einer jener British bullet-headed-Saxon-mother's-sons an den Bühnenrand und ruft mit sich überschlagender Stimme nach „Rock'n'Roll!!“.
Es ist nicht das erste Mal, dass Weller diesen Teil seiner Kundschaft befremdet, aber diesmal scheint kein Weg mehr zurückzuführen, und das ist sehr gut so.
Gestern beim Lesen der ebenso treffenden wie amüsanten Kritik des Guardian zum neuen Madonna-Album ist mir ein beinahe unerhebliches Detail aufgefallen, dass Madonna nämlich gerade einmal drei Monate jünger ist als Paul Weller.
Es ist, wie in ihrer schmerzhaft beharrlichen Selbstdarstellung als „Girl“ evident, bzw. wie Weller in „That Dangerous Age“ selbstironisch feststellt, ein durchaus gefährliches Alter, das nach einer gewissen kritischen Distanz zur eigenen Rolle verlangt, zumal wenn man immer noch im Popgeschäft werkt und nicht an sich selbst beobachtet haben mag, wie die von unten agierende Rechthaberei der Jugend in die von oben herabblickende Selbstgerechtigkeit des Alters umschlägt.
Ob Weller, der seine Arroganz zu einem Teil der Integrität seines Charakters erhoben hat, diese Distanz aufbringt, sei dahingestellt, aber immerhin: Ein Wort wie „selbstironisch“ (siehe oben) hätte man auf ihn zum letzten Mal 1987 in der Phase des bizarren JerUSAlem-Films von The Style Council anwenden können.
Wer jetzt gerade dem Hyperlink gefolgt und sich ein bisschen in „JerUSAlem“ verloren hat, kann nachvollziehen, warum Paul Weller damit damals einen schweren Flop erlitt, während „Sonik Kicks“ erfolgreich die vor dreieinhalb Jahren mit „22 Dreams“ eingeleitete, dann mit „Wake Up The Nation“ fortgesetzte Phase seiner künstlerischen Wiedergeburt krönt.
Die Selbstironie damals war nämlich ein Eingeständnis eines Scheiterns. The Style Council wollten, wie das Voiceover im Intro des Films sagt, tatsächlich „die beste Pop-Band der Welt“ sein. Darüber Witze zu machen, hieß, nicht mehr daran zu glauben.
Paul Weller hatte The Jam fünf Jahre zuvor nicht bloß aus einer selbstherrlichen Laune aufgelöst, sondern weil er ein neues, brauchbares Vehikel für seine Mission brauchte, den roten Faden einer sehr selektiven Sixties-Nostalgie mit einem obsessiven Modernismus-Anspruch zu verknüpfen. Letzterer führte ihn bis zu einem Exkurs in Richtung Deep House und dem von der eigenen Plattenfirma abgelehnten Album „Modernism: A New Decade“.
Auf seinem schwer unterschätzten ersten Solo-Album, das die neue Dekade dann tatsächlich eröffnen sollte, war dieser Drang zum idealen Pop immer noch deutlich spürbar, aber der Klassikaner im Mod sollte für den Rest der Neunziger die Oberhand über den Modernisten behalten. Diese regressive Periode traf den britischen Zeitgeist ironischerweise weit besser als Wellers Vorwärtsdrang der Achtziger.
Es brauchte ein gutes Jahrzehnt und vier überaus scheckige Übergangs-Alben („Heliocentric“, „Illumination“, „Studio 150“, „As Is Now“), um sich aus dieser scheinbaren Sackgasse in jenes unerwartete Nirvana durchzubohren, das nun die dogmatischen Stilregeln der Vergangenheit mit einem einzigen, mindestens genauso stur verfolgten Dogma vertauscht hat, nämlich größtmögliche Offenheit gegenüber absolut allem zu praktizieren.
Das Resultat ist die finale Inkarnation Paul Wellers als jene seltene, im britischen Zusammenhang zutiefst subversive, weil gesellschaftlich nicht vorgesehene Figur des kulturell wissbegierigen, zutiefst intelligenten, aber vom bourgeoisen Protokoll der freimütigen Künstlerexistenz völlig unbeeindruckten Working-Class-Exzentrikers. Er weiß genau, dass das von der Middle Class dominierte Indieversum ihn trotz der neuerdings euphorischen Kritiken immer belächeln wird, aber es kratzt ihn kein bisschen.
Nach dem ersten Set im Roundhouse erlaubten Weller und Band sich eine zehnminütige Verschnaufpause. Wir sahen sie – diesmal wie eine flüchtige Gangsterbande mit dem federnden Schritt des gelungenen Raubzugs – im Laufschritt hintereinander von der Bühne und dann, erfrischt, wieder zurück an die Instrumente eilen. Sie spielten ein akustisches Set, eingeleitet vom Jam-Song „English Rose“, gefolgt von einer abschließenden, elektrischen Rundschau durch den Katalog der letzten 21 Jahre Solokarriere. Auffällig, dass Weller sich dabei nie im Blues-Skalen-Genudel der Vergangenheit verfing, sondern selbst im Solo von „At the Foot of the Mountain“ funky und verknappt das Wesentliche suchte.
"See you tomorrow, boss!"
Später dann, beim Feiern in den Backstage-Gewölben, trug Weller bereits wieder einen anderen, ebenso makellosen Zweireiher, diesmal schwarzes Sakko mit grauer Hose, und andere zweifärbige Brogues in schwarz und weiß. Der Vater frischgeborener Zwillinge hielt sich nicht lange auf, und die – bis auf den Vize Steve Cradock – vor ein paar Jahren radikal verjüngte Band (deren wesentliche Rolle in dieser Schaffensphase einmal eine genauere Analyse verdienen würde) verabschiedete ihn mit der gänzlich unironischen, Wellers Rolle als eine Art britischer Springsteen suggerierenden Anrede „Boss“: „Alright, boss! See you tomorrow, boss!“
Was in der Luft lag, war die Befriedigung einer ordentlich erledigten Arbeit. Draußen auf der Straße diskutierten einstweilen Horden vor den Kopf gestoßener Weller-Fans, was in ihr Idol gefahren war. Was kann ein Gig schon Produktiveres bewirken als leidenschaftliche musikalische Debatten auf dem Weg zurück in die Suburbs?
Eben. Job done.