Erstellt am: 1. 3. 2012 - 18:07 Uhr
Show Me Everything
Wir müssen erst über Schokolade reden. Chocolate, so heißt der Opener des neuen tindersticks-Albums The Something Rain, gesprochen von David Boulter, nicht gesungen von Stuart Staples und als solches ein Zeichen. Neun Minuten lang. Allerdings, ein Zeichen.
Die lange Geschichte gipfelt in einer sexuellen Begegnung mit der Art von Pointe, die iTunes dazu bringt, in rot „explicit“ neben den Songtitel zu schreiben:
„What the Fuck? A large hard dick poked me in the eye. Shit, you're a chap!“
So wie bei „Lola“ liegt die Komik der Geschlechterverirrung auch in „Chocolate“ in der vom Erzähler empfundenen Peinlichkeit, aber im Gegensatz zu Ray Davies, der Lola wegschubst, zu Boden fällt und davonläuft, entspinnt sich zwischen den beiden Männern in „Chocolate“ eine ganz andere Dynamik. „I war eh nie so versessen auf Brüste“, ist Boulters letzte Feststellung.

City Slang
tindersticks, die sprechend Geschichten erzählten, das erinnert an „Marbles“ auf der ersten EP bzw. dem ersten Album der tindersticks vor 19 Jahren, oder an „My Sister“ auf dem zweiten, aber es entpuppt sich über den ihrer höflicheren Spätphase näheren Rest des Albums als eine falsche Fährte.
Wo wir schon von den letzten 19 Jahren reden. Die tindersticks haben eine Auflösung hinter sich, und eine neue Zusammenkunft mit veränderter Besetzung. The Something Rain ist das dritte Album dieser Phase. Jener gefährlichen Phase, wo jedes neue Album von der Kritik mit der Feststellung gefeiert wird, die Band sei zu alter Form zurückgekehrt, habe ihren Weg wiedergefunden, all das, wovon REM ein Lied singen hätten können, das weit spannender gewesen wäre als die Lieder der so beschriebenen Platten, also versuchen wir das tindersticks-Album doch als ein Ding für sich selbst zu sehen. Nicht als Teil des Kanons.
Die alte Faustregel des sich durch einen Plattenstapel wühlenden Radio-DJs ist ja an sich, dass der stärkste Track jedes Albums in 9einhalb von zehn Fällen der zweite ist. Immer noch ein Repräsentationsstück, aber ohne den Profilierungsdrang des ersten.
„Show me Everything“ scheint diese These zu beweisen. In seiner radikalen Reduktion auf simple Basslinie, nüchternes Schlagzeug mit mutwillig stumpfer Snare, reduzierter Echo-Gitarre, dann füllt sich das Bild und leert sich wieder.

Darren Hayman
„Wir könnten diese Steine nehmen“, murmelt Staples, „wir könnten etwas bauen, wir könnten es ewig versuchen, versuchen uns zu sehen und alleine zu überleben.“
Nein, ich kann nicht für die Korrektheit dieser Zeilen garantieren. Das ist schließlich eine legendär schwere Zunge, die da singt, und überhaupt ist der beste Song auf „The Something Rain“ - zumindest während ich das hier schreibe - doch nicht der zweite, sondern des freundlichen Wechsels auf Dur wegen vielleicht „Slippin' Shoes“, gespielt von der besten Hochzeitsband im Limousin.
Morgen spielen tindersticks in Wien eine exklusive FM4 Radiosession. Davor kommen sie im Connected-Studio vorbei.
Dort nämlich, in einer Ecke von Frankreich, wo außer gelegentlichen Dorffesten, Hochzeiten und Begräbnissen nicht viel außer Haus passiert, wohnt Stuart Staples schon seit ein paar Jahren, so wie viele Briten, die ihr Erspartes in einen günstigen französischen Alterssitz investiert haben, nicht wenige von ihnen Musiker, die meisten dagegen ganz normale Rentner, die zu Zeiten des billigen Euro hergezogen sind und jetzt im Supermarkt die europhobe Daily Mail kaufen (ich weiß das, ich hab sogar die Witzseite ihrer Exilzeitung gelesen, aber das ist eine andere Geschichte).
Die äußere Emigration ist im Limousin auch eine Innere, aber im Herbst glühen die Bäume dort feuerrot. Und folglich ist auch „This Fire of Autumn“ einer der entschieden nach vorne ziehenden Songs auf „The Something Rain“.
Ähnlich zügig gibt sich ein Song namens „Frozen“, der bricht eine Phase des Albums, in der man sich nicht mehr sicher ist, ob man den Faden verloren oder eine meditative Ebene erreicht hat.
Das Lied kulminiert in der atemlos, obsessiv aber hilflos ausgestoßenen Zeile „If I could just hold you“. So klingt der Soundtrack zum neurotischen Sexualleben von Menschen über vierzig, die sich ihre Zwanziger und Dreißiger in ihren Körpern zu Hause und sicher gefühlt hatten. Jetzt, wo sie sich dabei ertappen, wie sie beim Aufstehen und Hinsetzen unfreiwillig stöhnen, wo die in den letzten drei Jahrzehnten Beziehungsleben angesammelten Schuldgefühle sich nicht mehr wegwischen lassen, kehren sie zur herumfummelnden Unsicherheit ihrer frühen Teenagerjahre zurück.
Schon, „Frozen“ ist eine Art von Soulmusik, aber mit feuchten Händen. Erwachsenenmusik muss also nicht zwangsläufig Selbstgefälligkeit bedeuten. Sie muss nicht, aber sie kann. So wie der darauf folgende Song, dessen Titel gewiss nichts mit Sexualität zu tun hat, auch wenn er „Come Inside“ heißt. Das Gefummel ist beendet, und hier kommt der Abend am Kamin. Der Rotwein. Die Gelassenheit. Gelassenheit durch Rotwein.
Das war meine Assoziation mit den tindersticks, seit ich das Kleid der Tänzerin auf ihrem ersten Album-Cover sah. Da wären wir also doch wieder beim Kanon angelangt. Die Einreihung wollen wir uns trotzdem ersparen.