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Erich Möchel

Netzpolitik, Datenschutz - und Spaß am Gerät.

29. 2. 2012 - 21:47

ACTA-Farce im EU-Parlament

"Unsere Verantwortung als Politiker ist, Tatsachen zu schaffen und nicht der Masse folgen" sagte EU-Kommissar Karel de Gucht zu den Protesten. Weitere, geheimgehaltene ACTA-Dokumente sind aufgetaucht.

Die mit einiger Spannung erwartete öffentliche Sitzung des Handelsauschusses (INTA) zum Thema ACTA verlief am Mittwoch Nachmittag so, wie bisher stets mit dem umstrittenen Abkommen umgegangen wurde.

Obwohl ACTA inzwischen auf ein so hohes Publikumsinteresse stößt, dass die Betreiber der EU-Parlamentswebsite einen Button "ACTA-Stream" auf ihre Frontpage gesetzt haben, wurden alle anderen Punkte auf dieser Sitzung des parlamentarischen Handelsausschusses vorher diskutiert.

Schlusswort zur Eröffnung

So kam es denn, dass gerade noch Zeit für den Auftritt von Handelskommissar Karel de Gucht war, bevor die Dolmetscher Feierabend machten.

De Gucht las vom Blatt so ziemlich wortgetreu all jene Punkte ab, die er schon immer vorgetragen hat. Tenor: Eine Unterzeichnung von ACTA ändere nichts an der Rechtsbestandslage in der Union.

Reaktion auf die Proteste gegen ACTA: "Unsere Verantwortung als Politiker ist, Tatsachen zu schaffen und nicht der Masse folgen". Der neue ACTA-Berichterstatter des Parlaments verzichtete angesichts der zur Verfügung bleibenden zwei Minuten auf eine Wortmeldung.

Die Sitzung soll voraussichtlich morgen früh 10:00 fortgesetzt werden.

Ratifizieren und gefährden

Aus dem nämlichen Ausschuss für internationalen Handel INTA kommt die jüngste Kontroverse, die sich - für ACTA symptomatisch - um die Geheimhaltung von Dokumenten dreht. So hatte sich der dafür zuständige Vizepräsident des EU-Parlaments jüngst geweigert, das Rechtsgutachten zu veröffentlichen, das vom INTA beim juristischen Dienst des Parlaments angefordert worden war.

Begründung: Eine Veröffentlichung könnte die Ratifizierung des Abkommens gefährden, wurde einem anfragenden Blogger offiziell beschieden. Das entsprechende Dokument und ein weiteres machten zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels gerade die ersten Runden in diversen Kommunikationskanälen des Internets.

"Unterzeichnung nicht empfohlen"

Das Rechtsgutachten sollte die in der ACTA-Evaluation ("Assessment") aufgeworfenen Fragen beantworten. Diese Evaluation wiederum wurde davor von Juristen der Universität Maastricht und mehreren anderen europäischen akademischen Institutionen erstellt und kommt zur Schlussfolgerung:

"Jenen Abgeordneten zum Parlament, für die Konformität zum EU-Acquis eine Sine-Qua-Non-Bedingung darstellt, kann beim jetzigen Stand des Abkommens die Unterzeichnung nicht empfohlen werden." EU-Acquis ist - wie gesagt - das derzeit EU-weit gültige Rechtssystem.

Das ist der Knackpunkt des Abkommens. Von Handelskommissar Karel de Gucht angefangen hatten die Befürworter in Kommission und Parlament unermüdlich wiederholt, dass ACTA an bestehendem EU-Recht nichts verändern werde.

Rechtsmeinung der EU-Experten

Die eigenen Rechtsexperten - nämlich die von Rat und Parlament - sind sich in ihrer Rechtsmeinung dabei nicht so sicher.

Daas diesbezügliche Dokument ist nicht nur von Ricardo Passos, Direktorat A des parlamentarischen Rechtsservices unterzeichnet, sondern auch von einem Topjuristen des Rats der Union.

In einer gemeinsamen Rechtsmeinung stellen die EU-Juristen fest, dass es "keine rechtliche Voraussetzung gebe, dass ein internationales Abkommen kompatibel zu rechtlichen Beschlüssen von EU-Institutionen sein müsse. Ein von der Union unterzeichnetes internationales Abkommen kann tatsächlich zu Änderungen im Sekundärrecht führen." (Frage 2, c), Legal Opinion Seite 15)

"Auf den ersten Blick"

Sekundärrecht sind im EU-Jargon Richtlinien, Verordnungen, Beschlüsse usw. Weiter im Text der Rechtsmeinung von Rat und Kommission:

"Während angemerkt werden muss dass eine Reihe von Punkten in ACTA interpretiert werden können, scheint es auf den ersten Blick (prima Facie) keine Punkte zu geben, die in Konflikt mit dem EU-Acquis stehen." (Frage 2, c), Legal Opinion Seite 15). Unter EU-Acquis ("acquis communautaire") wird - wie erwähnt - der unionsweite Rechtsbestand verstanden.

"Eingeschränkte Flexibilität"

Was mögliche Konflikte mit dem TRIPS-Abkommen (siehe unten) angehe, so könne man ACTA nicht absprechen, dass es "die unter TRIPS gegebene Flexibilität einschränke". Wenn es denn um Interpretationsfragen durch EuGH oder nationale Gerichte ginge, "so sind diese aufgerufen, im Falle einer Inkompatibilität TRIPS den Vorzug zu geben."

Das ACTA-Assessment des Handelsauschusses ist zum Beispiel bei La Quadrature du Net erhältlich.

Koinzidenzen, WTO

Bereits am Mittwoch hatte es in der Sitzung des parlamentarischen Industrieausschusses (ITRE) an kritischen Stimmen nicht gemangelt. Unter anderem wurde gefragt, warum ACTA denn nicht bei der Welthandelsorganisation WTO eingebracht worden sei, sondern ein eigenes Gremium dafür geschaffen wurde. Im Rahmen der WTO existiere ja das "Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights" oder TRIPS-Abkommen, das regelmäßig zusammenkommt.

Die Antwort auf die Frage, die der Vertreter der EU-Kommission am Dienstag nicht geben konnte, gab es anderswo, auf dem zeitgleich abgehaltenen TRIPS-Council der WTO.

"Eingeschränkte Flexibilität"

Dort warnte die indische Delegation eindringlich vor völlig anderen Gefahren durch ACTA, als jene, die in Europa thematisiert werden. Indien und eine ganzen Reihe weiterer Staaten sorgen sich nicht um eine Einschränkung von Bürgerrechten durch den umstrittenen Vertrag, sondern um erschwingliche Medikamente. Das ist nämlich mit "eingeschränkter Flexibilität" im oben zitierten Rechtsgutachten gemeint.

Die Argumente der indischen Delegation lesen sich wie aus einer anderen Welt, verglichen mit jenen der ACTA-Gegner in Europa.

Die indische Delegation erinnerte daran, dass Indien und andere bei mehreren TRIPS-Treffen Beschwerde darüber erhoben hätten, dass dorthin bestimmte Generika beim Transit über europäische Häfen beschlagnahmt und vernichtet wurden. Und zwar ohne dass eine Urheberrechtsverletzung vorgelegen sei. Genau solche Vorgangsweisen würden durch Abkommen wie ACTA oder TPP erleichtert und im Ablauf beschleunigt, ohne Einschaltung eines Gerichts.