Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Gauck und die Netzgemeinde "

Christiane Rösinger Berlin

Ist Musikerin (Lassie Singers, Britta) und Autorin. Sie schreibt aus dem Leben der Lo-Fi Boheme.

25. 2. 2012 - 14:46

Gauck und die Netzgemeinde

Letzten Sonntag wurde Joachim Gauck als Kandiat für das Amt des Bundespräsidenten vorgestellt. Und schon am nächsten Tag wurde in Internet-Debatten aus dem einstigen Liebling Gauck ein Hassobjekt.

Zitate aus Reden und Interviews tauchten auf und die Vorwürfe waren schnell formuliert: Gauck findet Sarrazin "mutig", die Occupy-Bewegung hingegen "unsäglich albern". Sein pathetischer Freiheitsbegriff ist neoliberal und meint die uneingeschränkte Freiheit der Märkte und der Wirtschaft, er hält nichts von Solidarität und vernachlässigt soziale Themen. Er hat eine ablehnende Haltung zu Migranten und zu Hartz 4 Empfängern. Er war immer für den Bau von Stuttgart 21 und gegen die Energiewende. Er steht für die historische Gleichstellung von DDR-Regime und NS-Diktatur. Ein richtiger Konservativer also, wenn nicht gar ein Reaktionär.

Joachim Gauck und die Überschrift Not My President

Facebook

Ab Dienstag sprach man im Fernsehen und den "alten Medien" dann von der "Internetgemeinde", die sich gegen Gauck verschworen hätte. Das führte natürlich zu der Frage, was "die Internetgemeinde" überhaupt sein soll. Führende Köpfe der Internetgemeinde behaupteten, die Internetgemeinde gäbe es gar nicht. Denn in Deutschland nutze der größte Teil der Menschen heute digitale Dienste ganz selbstverständlich. Der Begriff Internetgemeinde sei ähnlich absurd wie die Begriffe Zeitungsgemeinde, Fernsehgemeinde, Faxgemeinde, Telefongemeinde. Und wer soll denn auch zu dieser ominösen Netzgemeinde gehören? Die 46 Millionen Deutschen, die einen Internetanschluss haben, die 20 Millionen bei Facebook, die 17 Millionen bei Studi VZ ? Oder die Twitter-Nutzer? Oder die 8,4 Prozent, die ein eigenes Blog betreiben? Oder die, die klassische Medien im Internet konsumieren und sich mit Kommentaren an Diskussionen beteiligen?

Die Netzgemeinde ist linksliberal, engagiert sich gegen ACTA und Zensur, wählt die Piraten und steht im Gegensatz zur "öffentlichen Meinung". So in etwa lassen sich die Definitionen zu "Netzgemeinde" zusammen fassen. Der Ausdruck suggeriert auf jeden Fall, dass der Verfasser des Ausdrucks, der Sprecher, sich dieser Gemeinde nicht zugehörig fühlt. Der Begriff Gemeinde wiederum verweist auf eine kleine sektenartige Gruppe, die aber in sich ganz homogen ist. Gehöre ich zur Internetgemeinde wenn ich bei Facebook, links, aber für das Urheberrecht bin, für Online-Medien schreibe und nicht die Piraten wähle?

Vielleicht kann ein Blick auf die Facebook- Startseite helfen. Ein Facebook-Freund postet am Montag: Der alte Präsident Wullff ist durch die Kampagne der Bildzeitung beseitigt worden, weil er sich zu positiv über Migranten und den Islam geäußert hat. An zu Guttenberg hingegen hat die Bildzeitung in der Plagiatsaffäre bis zum Schluss fest gehalten. Gauck ist der Präsident der Bildzeitung, weil er so reaktionär ist.

Dieses Posting wird zunächst als Verschwörungstheorie eingeordnet. Aber in allen nachfolgenden Beiträgen äußert man sich negativ zu Gauck und postet kritische Artikel. Ein anderer Facebook Freund postet unter der Überschrift "Das Lied zu Gaucks Freiheitsbegriff", ein folgendes Video von Georg Kreisler: "Meine Freiheit, deine Freiheit".

Netzgemeinde hin oder her, bis zum Freitag hatte die Debatte bereits die dritte Runde hinter sich.

  • Erste Runde: Auftritt der Kritiker mit den bekanntesten Gauck-Zitaten unter anderem zu Sarrazin, Sozialstaat, Occupy.
  • Zweite Runde: Kritik an den Kritikern weil sie die Gauck’schen Aussagen verkürzt, verkehrt und aus dem Zusammenhang gerissen haben. Entschuldigung der FAZ- Bloggerin. Sascha Lobo kritisiert auf Spiegel Online die Praxis des verstümmelten Zitats in den sozialen Medien.
  • Dritte Runde: Kritik der Gauck-Kritiker an ihren Kritikern durch Heranziehung der gleichen Zitate, mit denen die Kritiker-Kritiker Gauck verteidigen.

Die Netzgemeinde, sofern es sie gibt, hat diese Woche ihrer Neigung zur kleinlichen Nörgelei und zur Lust an der Demontage freien Lauf gelassen, aber immerhin auch Fähigkeit zur Selbstkritik gezeigt.