Erstellt am: 3. 3. 2012 - 14:15 Uhr
Lin-sanity
Linsanity, Lincredible oder Linception. An originellen Nicknames für den neuen Superstar der New York Knicks mangelt es nicht. Jeremy Lin sorgt seit Anfang Februar für große Aufregung inner- und außerhalb der USA.

jdharm
Bei Spielen saß der junge Aufbauspieler der New York Knicks bis vor wenigen Wochen hauptsächlich auf der Bank. Die Spielzeit der Benchwarmer, also Bankwärmer, ist zumeist abhängig von den Verletzungen ihrer Mannschaftskollegen. Jeremy Lin bekam seine Chance bei einem Spiel gegen die New Jersey Nets. Die beiden Superstars der Knicks, Carmelo Anthony und Amar'e Stoudemire, waren verletzt, also kam er aus dem äußersten Rand der Reservebank ins Spiel.
Eine Entscheidung, die er nicht bereuen sollte. Jeremy Lin spielte nicht nur solide, sondern großartig. Mit 25 Punkten führte er die Knicks gegen die Nets zum Sieg. Mittlerweile ist Lin fix in der Startformation. Und wenn er sich mal wieder auf die Bank setzt, dann nur in den Timeouts - mit Jeremy Lin gewann die Mannschaft aus New York neun von zwölf Spielen im Februar.
Elite-Student, Elite-Spieler
Plötzlich ist Jeremy Lin überall. ESPN, der größte US-amerikanische Sportsender, berichtet fast täglich, auf nba.com, der offiziellen Seite der NBA gibt es jeden Tag zumindest ein Bild oder ein Video von Lin. Alle schreiben über ihn, seine Trikotverkäufe sind um 3000% gestiegen, die Spiele der Knicks sind restlos ausverkauft. Und dem Markforschungsinstitut Nielsen zufolge soll er sogar besser zu vermarkten sein als etablierte Superstars wie Kobe Bryant oder LeBron James.
Doch warum reden alle über diesen Typen?
Lin hat eine untypische NBA-Karriere hinter sich. Obwohl er seine High-School-Mannschaft zur Staatsmeisterschaft führte, bekam er kein Sport-Stipendium angeboten. So ging er nach Harvard und schloss dort ein Betriebswirtschaftsstudium ab. Elite ist Harvard, wenn es um akademische, nicht aber wenn es um athletische Leistungen geht. So brachten ihm die vier erfolgreichen Jahre in der Basketballmannschaft von Harvard zunächst keine Angebote von der NBA, erst nach guten Leistungen in Trainingscamps und Vorbereitungsspielen fand er einen Platz bei den Golden State Warriors in Oakland. Nach 60 Jahren ist Lin der erste Harvard-Absolvent in der NBA.
Bis er zu den Knicks kam, wurde er aus mehreren Mannschaften gestrichen und auf die Transferliste gesetzt, auch bei den Knicks war er kurz davor, seinen Job zu verlieren. Als er die Chance bekam, bewies er seine Fähigkeiten. Jeremy Lin ist ein exzellenter Aufbauspieler und mit einem Siegestreffer gegen die Toronto Raptors zeigte er auch, dass er keine Angst vor den letzten Spielminuten hat.
Taste the Linsanity
Die große Besonderheit von Jeremy Lin ist aber etwas, was eigentlich keine Rolle spielen sollte: seine Herkunft. Lins Eltern kommen aus Taiwan. Er ist erst der fünfte Asian-American in der NBA und damit eine echte Rarität. Es ist sein Exotenstatus, der ihn heraushebt und der in der medialen Aufarbeitung seiner Erfolgsgeschichte nie fehlt. Begleitet freilich von allerlei Klischees, Vorurteilen und rassistischen Zuschreibungen.
So twitterte Profiboxer Floyd Mayweather: "Jeremy Lin is a good player but all the hype is because he's Asian. Black players do what he does every night and don't get the same praise". Und bei ESPN wurde ein Journalist gefeuert, weil er in der Überschrift zu einem Artikel über Jeremy Lin eine abfällige Bezeichnung für Chinesen verwendet hat. ESPN entschuldigte sich nach dem Vorfall öffentlich bei Jeremy Lin. Ben&Jerry's musste sich für seine limited Edition-Eissorte namens "Taste The Lin-Sanity" entschuldigen, weil Glückskekse darin waren.
Der Pionier
Der Rassismus, die Stereotype und die Vorurteile, mit denen Jeremy Lin zu kämpfen hat, sind nicht neu. Sie waren schon immer da, aber sie blieben unbemerkt. Während es undenkbar ist, dass ein ESPN Moderator offen rassistisch über einen afroamerikanischen Spieler spricht, zeigt die Berichterstattung über Jeremy Lin, dass die US-amerikanische Gesellschaft weniger sensibilisiert ist, wenn sich der Rassismus gegen Asian-Americans richtet, die als Gruppe großteils ignoriert werden und relativ unsichtbar bleiben.
Ignoriert wurde auch Jeremy Lin lange Zeit. Noch im Jänner twitterte er:
"Everytime i try to get into Madison Square Garden, the security guards ask me if im a trainer LOL."
Das Beispiel Lin zeigt, dass es eine Art selektiven Anti-Rassismus gibt: Die Sensibilisierung gegenüber unterschiedlichen Formen von Rassismus muss immer wieder aufs Neue erarbeitet und erkämpft werden. Insofern ist Jeremy Lin ein Pionier und sein größter Erfolg wird wohl nicht nur sportlicher Natur sein.