Erstellt am: 18. 2. 2012 - 12:04 Uhr
Boxkampf mit dem Pop
Erst vor Kurzem hab ich über die Geschichte der Hamburger Kettcar einige Worte niedergeschrieben, anlässlich des FM4 Geburtstagsfests. Denn dort haben sie ihr neues Album "Zwischen Den Runden" schon auszugsweise vorgestellt.

Kettcar
Jetzt ist es auch endlich in der virtuellen und physischen Welt veröffentlicht worden. Der Titel "Zwischen den Runden" ist Programm. Das vierte Kettcar-Album ist eine Bestandsaufnahme, haben die Hamburger doch schon vieles hinter und noch einiges vor sich. Die Band scheint mit sich selbst in den Ring zu steigen und liefert sich einen Kampf zwischen akustischen Balladen, beschwingt wirkendem Indiepop und großem Veränderungswillen. Und so hat mich der sympathische Musikfünfer doch glatt zu vielen Assoziationen hinreißen lassen.
1. Wenn die Liebe über Erbrochenes siegt
Mit Bläsersatz und dramatischen Akkorden eröffnen Kettcar mit dem Song "Rettung" ihr neues Album. Kurz darauf erzählt uns Sänger Marcus Wiebusch über eine knöchern reduzierte Strophe von einer wild durchzechten Nacht, in der die Freundin schlussendlich am Klo landet, und das lyrische Ich ihr die Haare zur Seite hält, damit sich nicht noch mehr Erbrochenes in die neue Frisur verirrt. Was nach einer ekeligen Szene klingt, wird im Verlauf dieses schmächtigen Stücks zu einer wahren Hymne an die Liebe, die eben nicht hauptsächlich aus Gefühlen, einer Suche oder Sehnsucht besteht; sondern sich vielmehr darin zeigt, was man für seine/n Geliebte/n tut. Ein Liebessong mit einem derartigen Bild zu zeichnen und dabei unpeinlich von Platz zu gehen, das können wohl nur Kettcar.
2. Wilkommen im Club des Scheiterns
Die erste Single "Im Club" baut sich mit federleichtem Schlagzeugrhythmus und warmen Streichersätzen zu einem Tanzbodenstück auf, zu dem alle Versager ausgelassen ihre Beine schwingen. Schließlich bieten die fünf Hamburger uns mit diesem Song die Möglichkeit, unser Scheitern, das sich zwangsweise immer wieder im Leben einstellt, in netter Gesellschaft ertragen zu können. Das Video zu "Im Club" zeigt über 500 Fotos von Fans, die von der Band in einer Art Nachrichten- und Reporterfeature abgearbeitet werden. Leider zeigt sich hier, dass Musiker sich nicht immer als Schauspieler versuchen sollten.
3. Der Mut zum Schweben
Viel habe sich geändert, meint Marcus Wiebusch im Interview, und das man mutig gewesen wäre und diesmal etwas riskiert hätte. Das dritte Stück "Schwebend" ist wohl so ein Song, bei dem die Band mal etwas anderes versuchen wollte. Fast ohne Beat, nur mit Händeklatschen kommt das Lied aus, mit Streichern und flirrenden Sounds verfeinert erzeugt es sogar eine hypnotische Wirkung. Und wenn am Ende ein schweres Klavier und kleine Akkordzerlegungen auf der Gitarre übrig bleiben, dann wird klar, dass die Akustik-Tour von Kettcar tiefe Spuren auf dem neuen Album hinterlassen hat. In diesem Fall sitzt das neue luftige Soundgewand perfekt.
4. Krieg und Frieden
Erfrischend zügig treibt der altbekannte Kettcar-Beat das Stück "R.I.P." an. Bei dem vorläufigem Highlight der Platte wird ebenso tief in die Streicherarrangementkiste gegriffen. Aber auch diesmal schmiegen sich die zart gestrichenen Klangflächen angenehm an das melancholische Timbre von Marcus Wiebusch, der es schafft, der musikalisch beschwingten Stimmung textlich eine harte Realität gegenüberzustellen, garniert mit unmerklich einfließenden Boxkampfmetaphern, die den Konnex zum Albumtitel "Zwischen den Runden" bilden und bei den meisten Stücke eingeflochten werden. Schließlich ist der ganz normale Alltag nicht selten ein ziemlicher Kampf.
5. Vom Witz zur bitteren Realität
Was mit "Kommt ein Mann in die Bar" wie ein schlechter Witz beginnt, entwickelt sich zu einem gefühlvollen Portrait einer kleinen Kneipenszene in einer x-beliebigen Großstadt und der bescheidenen Leben ihrer Figuren. Es sind genau diese kleinen, persönlich erscheinenden Geschichten, die "Zwischen den Runden" zu einem gefühlvollen und schönen Album machen. Dafür braucht es manchmal eben nur ein Beserl-Schlagzeug, einen Kontrabass, ein Klavier und eine einsame Gitarre, die im Hintergrund charmant dahinschrubbelt. Denn so kann die Erzählung in den Vordergrund rücken, und die kann uns im geeigneten Moment so richtig erwischen.
6. Ohne Worte
Spätestes an diesem Punkt überschreiten Marcus Wiebusch und seine Mannen den schmalen Grad zum kitschigen Liebeslied. Denn "Weil ich es niemals so oft sagen kann" ist nicht nur musikalisch ein tranig schmeckender, lang gezogener Kaugummi, dem auch die dick aufgetragenen Geigen, die besungen werden nicht helfen können. Textlich fehlt hier der gewohnte Kontrapunkt, der den Kettcar Songs meist eine gewisse Tiefe und Komplexität verschafft. Das bleibt bei dieser Hollywood-Nummer leider auf der Strecke.
7. Kunst und Kultur sind wichtig
Ganz ohne politisches Engagement geht es auch auf "Zwischen den Runden" nicht. Zwar stehen Alltagsgeschichten und kleine Beziehungsdramen im Vordergrund, doch mit "Schrilles buntes Hamburg" wird ähnlich wie beim Vorgänger "Sylt" kräftig auf den Protesttisch gehauen. Dabei schwingen Kettcar mit lärmigen Gitarren und polternden Drums einen mächtigen rechten Haken gegen die Kultur- und Kunstpolitik ihrer geliebten Heimatstadt und plädieren dafür, dass gerade in diesem Bereich eben nicht alles gleich ökonomisch verwertet werden muss. Ein paar mehr Ecken und Kanten hätte man sich bei dieser kurzen Empörung trotzdem gewünscht.
8. Raus aus dem Krankenhaus
Dafür streckt einen das ruhige "Nach Süden" mit einem Schlag in die Magengrube richtig nieder. Es ist eine gefühlvolle Geschichte über einen Menschen, der nach eineinhalb Jahren endlich das Krankenhaus verlassen kann und nachhause fahren darf. Mehr Kontext braucht es nicht, um das heimliche Highlight der Platte abzuliefern. Die kurzen bildhaft beschriebenen Momente nehmen einen gefangen, begleitet von einer traurigen Melodie einer einsamen Trompete. Sehr zart verflechten Kettcar in nur dreieinhalb Minuten verschiedene Sounds zu einem spannenden und doch reduzierten Arrangement. Ein melancholisches Meisterstück.
9. Wenn dich die Bar umarmt
Meine erste Assoziation bei "In deinen Armen" war Tom Waits. Diese schunkelige, am Ende etwas unbeholfen holpernde Klaviermelodie erinnert stark an eine rauch- und whiskygeschwängerte Atmosphäre einer schummrigen Bar. Hier beweist Marcus Wiebusch durchaus Mut, in diesem klassischen, jazzigen Ambiente mit seiner recht glatten Stimme erneut eine recht deutliche Liebesgeschichte zu erzählen. Doch plötzlich klingt diese schmachtend schöne Nummer auch schon wieder mit dem Schlussakkord auf, und man fragt sich, ob man das nun wirklich gehört oder etwa geträumt hat.
10. Ein ungleiches Paar
Freundschaften sind bei Kettcar immer schon Thema gewesen. Dort wo bei "Sylt" das großartige Duett "Am Tisch" mit Niels Frevert ein spannendes Bild zweier Freunden zeichnet, die sich in konträre Richtungen entwickelt haben, dort wirkt auf der neuen Platte das trabende "Der apokalyptische Reiter und das besorgte Pferd" etwas hilflos. Mit kinderliedähnlichen Metaphern versucht Marcus Wiebusch ein Bild einer sehr ungleichgewichtigen Freundschaft nachzuzeichnen, aus der man flüchten musste, sie heute aber trotzdem schon ein bisschen vermissen darf. Nachdem dieses apokalyptische Pferd im Galopp läuft, ist der Spuk auch wieder schnell vorbei.
11. Gänsedepressionen
Wesentlich interessanter ist der Zugang, einen Song aus der Sicht einer Gans zu schreiben, wenn man das bei "Erkenschwick" wirklich so sagen kann. Allerdings müssen diese in schöne Sprachbilder verpackten Schilderungen von weit oben aus beobachtet worden sein. Ein kleiner Junge, der wie die Gans zum Meer reisen will und schlussendlich doch nur in einer westfälischen Stadt strandet. Eine kleine Erzählung mit großer Wirkung.
12. Was nach dem Ende kommt
Den Hut ziehen Kettcar mit einem berührenden Begräbnislied, bei dem Stück für Stück die Beziehung zu dem Verstorbenen nachgezeichnet wird. So wird die anfängliche Distanz, mit der man auf die Trauergemeinde blickt, von Minute zu Minute kleiner bis man am Ende einer von ihnen ist. Marcus Wiebusch schafft bei "Zurück aus Ohlsdorf" das Kunststück, unprätentiös über einen schmerzenden Verlust zu singen, ohne die verklärend melancholische Brille und erzeugt genau dadurch großes Mitgefühl. Ein schöner Abschluss für eine im Großen und Ganzen sehr gelungene Kettcar-Platte.