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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

23. 1. 2012 - 16:20

Steal Away

Nach den Tributen an die verstorbene Etta James - ein paar Gedanken zum medial kanonisierten Soulverständnis.

Zugegeben, die Online-Empörung darüber, dass FM4 noch keinen Etta James-Nachruf (oder Johnny Otis- oder Jimmy Castor-Nachruf) veröffentlicht hat, hat sich bisher in Grenzen gehalten. Aber ja, es war ein Versäumnis, dessen wir uns schon bewusst sind und das jetzt wieder gut zu machen, auch schon längst zu spät wäre.

Nachrufe ließen sich inzwischen vielerorts lesen, darunter sehr gute wie dieser hier im Independent.

Etta James in Latzhose, 7ts

?

Und doch, nach einem britischen Wochenende der endlosen Tributes auf allen Sendern - "one of the greats", "one in a million", "Queen of Soul" etc. et-entwertend-inflationäre-cetera - hätte ich tatsächlich noch was hinzuzufügen.

Die weniger inspirierten dieser Würdigungen klammerten sich nämlich auffällig oft an der leicht verdaulichen Erkenntnis fest, dass Etta James nachweislich Koryphäen der Gegenwart wie Adele, Beyoncé oder die selige Amy Winehouse prägend beeinflusst habe.

Das lässt sich erstens nicht bestreiten und zweitens je nach persönlicher Einschätzung bestenfalls als großes Kompliment oder schlimmstenfalls als Tatsache außerhalb ihrer eigenen Verantwortung werten.

Krokodilstränen aus den Home Counties vs. "die echten Ladies aus den Southsides dieser Welt?"

Wir kennen die Geschichte, derzufolge Etta James sich zuerst darüber beschwerte, dass Beyoncé sich herausnahm „ihren“ Song „At Last“ bei Präsident Obamas Inaugurationsball zu singen (und diese Beschwerde später als „Scherz“ neuinterpretierte).

So oder so muss ich gestehen, dass ich dem Film Cadillac Records, in dem Knowles James verkörpert, der schlonzigen Optik des Trailers und der kolportierten Geschichtsfälschungen wegen keine Chance gegeben habe.

Was wiederum Adele angeht, liest man, jene sei beim Treffen mit ihrem großen Idol erst vor Hochachtung verstummt, danach vor Rührung in Tränen ausgebrochen. Das spricht an sich noch nicht gegen sie, auch wenn nach meinem Geschmack solche überhöhte Heldinnenverehrung immer verdächtig nach Overacting riecht.

Es erinnerte mich aber an eine Bemerkung der in London lebenden afro-amerikanischen Schriftstellerin und Kritikerin Bonnie Greer neulich in einem Guardian-Feature zu Anlass der Bemerkung Michelle Obamas, sie werde von den Medien als „some angry black woman dargestellt“. Als Reaktion darauf lud der Guardian fünf Frauen ein, ihren eigenen Zorn loszuwerden.

Grier schrieb: „Weiße Frauen, die wie schwarze Frauen singen: All diese Ladies mit ihren Mariah Carey-Whoops, den Beyoncé-Schnörkeln, dem Aretha Franklin-Vibrato. Anfangs war das wunderbar und ein wenig schmeichelhaft. Jetzt klingt es bereits falsch und beleidigend, irgendein Mädchen aus den Home Counties (den Provinzen rund um London, Anm.) singen zu hören, so als käme sie von der Southside von Chicago. Und es schließt die echten Ladies aus den diversen Southsides der Welt aus.“

Grier wärmte damit den klassischen und ältesten Streitfall der Rock'n'Roll-Geschichte wieder auf, wenngleich anhand der völlig falschen Beispiele (ich kann in Mariah Careys Whoops beileibe keine Roots detektieren, die nicht durch den Konsum einer Mundvoll Bubblegum erworben werden könnten, über Beyoncé können wir streiten).

Eine Welt entfernt vom Wedeln der Jazz Hands

Wirklich gegessen wird diese Angelegenheit nie sein, das ergibt sich allein schon aus der Vermengung von rücksichtsloser Pop-Allesfresserei und bluesigem Authentizitätsanspruch, die sich im Geächz ihrer dogmatischen Gebäuden beiderseits nie ganz ausgehen (eine Diskussion für ein andermal).

In jedem Fall hat Grier recht damit, diesen Strauß jetzt wieder neu zu fechten, schließlich gehen derzeit die Open Mike-Pubs, Talenteshows und Festivalbühnen Europas im Gefolge der Erfolge von Winehouse, Stone, Duffy, Adele und Co. nur so über vor studierter Soulfulness, gefühlsüberwältigt vor der Brust wedelnder Jazz Hands, den Nektar des Gospel aus der Luft fischender Soulfinger, groovig nach vorne gestreckter Kinnpartien und von spiritueller Trance betäubter Schlafaugen.

Es ist die Verdünnung der Verdünnung, und ja, es wirkt glitschig auf Aug und Ohr.

Wenn nun also der viel zu frühe Tod von Etta James zu irgendwas gut gewesen sein soll, dann dass all jene Nachrufe vielleicht doch ein paar tausend Adele-Fans und „At Last“-erprobte Karaoke-KünstlerInnen irgendeiner Youtube-Playlist zuspülen und sie damit konfrontieren, wie unendlich weit die Stimme der Etta James entfernt war von all dem salbungsvollen, körpergeruchfreien, frömmelnden Feeling, das einem üblicherweise als klassisches Soul-Sentiment mit Zweitfunktion als Dinner-Party-Soundtrack unter die Nase gerieben wird.

Etta James, Seven Day Fool-Single

ARGO Records

Anfangen könnte man dabei mit I'd Rather Go Blind, Tough Lover, Tell Mama, I Just Wanna Make Love To You, Steal Away, Take It To The Limit, Fire, All The Way Down, Good Rockin' Daddy, Out On The Street Again, Come a Little Close, You Got It oder Seven Day Fool. Zum Beispiel.