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Marc Carnal

Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, hat die bessere Luft. Lach- und Sachgeschichten in Schönschrift.

8. 1. 2012 - 15:00

Über das Finden

Eier, Butter, Bier - Texte zu Einkaufslisten unbekannter Provenienz (4)

marc carnal

Marc Carnal, der schönste Mann von Wien, sammelt seit geraumer Zeit Einkaufslisten.

Unterstützt wird er dabei von einem stetig wachsenden Kreis an redlichen Helfern, die ihn regelmäßig mit am Wegesrand oder in Supermärkten aufgelesen Zettelchen beliefern, auf denen Fremde seltsame, amüsante, wirre, ungesunde oder fragwürdige Gedankenstützen notiert haben.

Zu diesen teils zauberhaften Stichwortsammlungen verfasst Herr Carnal dann Texte und trägt diese zwischendurch auch öffentlich vor.

Dank eines emsigen Netzwerkes, aber auch Kraft meines stetig reifenden Sensoriums bin ich mittlerweile im Besitz von hunderten sorgsam archivierten Einkaufslisten. Den Beginn dieser seltenen Sammel-Leidenschaft markierte eine Liste, die mein geschätzter Kollege Wurm und ich vom Wegesrand auflasen. Es handelte sich übrigens um jene, die später den Ausgangspunkt für den Text „Die Gefahren der Nahrung für den Zahn“ bilden sollte. Die notierten Speisen waren weder einzeln noch in Kombination ein geeigneter Auslöser für lang währendes Prusten, trotzdem amüsierten wir uns dabei, anhand des Zettelchens Rückschlüsse auf den Autor zu ziehen. Und weil uns der Sinn gerade nach großen Plänen stand, beschlossen wir, von nun an herzblütig Einkaufslisten zu sammeln. Außerdem könnte ich die gefundenen Exemplare ja knackig und zackig kommentieren, so der ergänzende Plan.
Mit Projektideen ist es wie mit Zimmerpflanzen, die munter gedeihen und eigentlich einen größeren Topf bräuchten: Meistens setzt man sie doch nicht um.

Meiner Theorie, dass man Fetische nicht nur bedienen, sondern auch generieren kann, indem man alltägliches Handeln audiovisuell festhält und diese Dokumente auf Webseiten feilbietet, die durch Titel und Design eine pornographische Konnotation erzeugen, wollte ich Rechnung tragen, indem ich Frauen- und Männerfüße dabei filme, wie sie Süßwaren aller Art zertreten. Junge Damen – „barely legal“– die in Sachertorten steigen, knochige Milf-Füße, die auf Kaiserschmarren hüpfen oder flaumige Herrenbeine in Waffeln. Mit etwas Beharrlichkeit, einem angemessenen Produktionsvolumen und einer aggressiven Marketingstrategie hätte sich meiner Überzeugung nach mit der Zeit eine gewinnbringende masturbationssüchtige Klientel gefunden. Wie zu erwarten, blieb mein Cake-Porn-Projekt natürlich bis heute eine nie umgesetzte Idee.

Auch der Plan mit den Einkaufslisten blieb einige Zeit ein solcher. Ich suchte zwar öfter Einkaufswägen ab, wurde aber nie fündig. Einige Monate nach dem ersten Fund berichtete mir Kollege Wurm allerdings, er hätte bereits drei Exemplare und seine weder bessere noch schlechtere, sondern genau gleich gute Hälfte, Frau Wurm, in das Vorhaben eingebunden. In den nächsten Wochen wurden die Erfolge der beiden immer üppiger. Zuerst überreichten sie mir fünf, kurze Zeit später schon elf Zettel, schließlich regelmäßig prall gefüllte Kuverts.

Meine Erfolge hielten sich vorerst in Grenzen. Wandelte ich etwa mit derart geschlossenen Augen durch die Welt, dass ich den Status als Belieferter ohne eigene Funde behalten sollte?
Nein, irgendwann reüssierte auch ich. Das Geheimnis beim Sammeln von Einkaufslisten ist nämlich dasselbe wie jenes der großen Liebe: Man darf sie nicht suchen. Im Supermarkt bringt der stetige Blick auf die Bodenfliesen ebenso wenig wie das Durchwühlen der Papiereimer an der Kasse. Vielmehr führt ein ständig im Hintergrund aktiver und im richtigen Moment greifender innerer Scan-Modus zum Erfolg. Mit Trotz und Geduld lässt sich ein eigener Einkaufslisten-Blick entwickeln, dem selbst kleinste Exemplare im Augenwinkel nicht verborgen bleiben.

marc carnal

Mit diesem ähnlich einem Virenscanner permanent laufenden Outdoor-Programm erspähe auch ich mittlerweile regelmäßig hübsche Einkaufslisten. Manche natürlich vor oder in Supermärkten und Einkaufsstraßen, sehr viele aber an Orten, wo das Listen-Greenhorn keine Entdeckung erwarten würde. So fand ich an einem Sonntag gegen Mitternacht in einer stillen Seitengasse gleich zwei Exemplare hintereinander.

Grundsätzlich sind bei der Zettel-Ernte fünf goldene Regeln zu beachten:

  • 1. Jede Liste wird mitgenommen – Es gibt keine langweiligen oder schlechten.
  • 2. Einkäufe werden nicht nur auf klassischen Notizzetteln, sondern sämtlichen beschreibbaren Medien notiert – selbst schier aussichtsloses Bücken lohnt sich oft.
  • 3. Selbstgeschriebene oder Listen von bekannten Personen sind nicht mehr „unbekannter Provenienz“ und daher zu vernachlässigen.
  • 4. Die Listen sollten möglichst im Originalzustand belassen werden, also auch schmutzig, zerknittert oder eingerissen.
  • 5. Souverän bleiben!

Besonders der letzte Punkt ist nicht zu unterschätzen. Sich mit gierigem Blick auf Müll zu stürzen – denn nichts anderes sieht der Außenstehende in welken Zettelchen am Boden – mag Zeugen irritieren. Der redliche Herr Josef, als vierter zum Kern-Sammelkollektiv gestoßen und mittlerweile Groß-Lieferant, hat einen eigenen, ausgesprochen eleganten und an Ballett erinnernden Bück-Schritt entwickelt, der meiner Meinung nach zwar noch wesentlich auffälliger ist als verstohlene Kniebeugen, aber solange er mir regelmäßig Listen übergibt, sind mir die Haltungsnoten egal.
Frau Wurm bekam, nachdem sie sich nach einer Liste gebückt hatte, einmal tatsächlich von einer älteren Dame zwei Euro in die Hand gedrückt. Listen-Sammeln ist also kein der Außenwahrnehmung besonders dienlicher Sport, doch darum geht es den Idealisten im „Eier, Butter, Bier“ – Team auch nicht.

Vielmehr erfreuen wir uns immer wieder an den vielen komischen und durchschnittlichen Einkaufslisten. Und freilich sind die meisten recht öde und nur die wenigsten sonderlich packend. Ab und zu aber sieht man ein Exemplar am Straßenrand, liest es und ist überzeugt, einen Jahrhundertfund getan zu haben.

Ausgerechnet im Elektrofachhandel eine Liste zu finden, die mit dem Begriff „Todesspiele“ beginnt, fand ich im ersten Moment sensationell. Dass es sich dabei um einen dahergelaufenen Thriller einer gewissen Karen Rose handelt, bemerkte ich erst zu Hause.

Vorschnelle Euphorie ist also ein schlechter Ratgeber, vielmehr sind beharrliches Sammeln, präzise Lektüre und intensive Beschäftigung mit den vielen schönen Einkaufslisten gefragt, zu denen mir hoffentlich noch viele prächtige Texte aus der Feder fließen werden.