Erstellt am: 16. 11. 2011 - 17:37 Uhr
Wenn Angst zum Noisepop wird
Es ist wie das Eintauchen in ein großes Soundmeer. Über einen brechen und rollen kräftige Klangwellen hinweg. Streckt man den Kopf heraus, durchspült einem die weiße Noise-Gischt die Ohren, taucht man wieder ab, kann man sich auf den Harmonieströmungen quasi schwerelos dahintreiben lassen.
Was uns I Break Horses mit ihrer ersten Platte "Hearts" servieren, ist nichts weniger als eines der schönsten, berauschensten, noisigsten und verträumtesten Alben des auslaufenden Jahres.

Sebastien Dehesdin
I feel the pain of everyone
Es war in ihrer Schulzeit, als der Turnlehrer die junge Maria Lindén nach einer Laufrunde aufforderte, sich den Puls messen zu lassen. Durch den Druck der Fitnessüberprüfung entwickelte das recht schüchterne Mädchen eine beklemmende Angst vor dem eigenen Herzschlag. Erst viel später setzt die schwedische Sängerin ihre Gefühle in dem Song "Puls" um. Einem sphärischen und hypnotisch dahin groovenden Popstück, das von gehauchten Vocals, verhallten Gitarrenriffs, dem pumpenden Rhythmus und schlichter Soundeleganz lebt.

I Break Horses
Wie dieses Stück sind einige auf "Hearts" aus Ängsten heraus entstanden, denn Maria litt bis vor ein paar Jahren vehement unter ihrer Hypochondrie. Paradoxerweise führte diese Krankheit nicht nur zu ergreifenden und berührenden Songs, sondern auch zum ersten Kontakt mit ihrem heutigen Musikerkollegen Frederik Balck. Beide chatteten miteinander, um auf einer Internet-Arzt-Beratungsseite herauszufinden, was wohl hinter ihren Kopfschmerzen stecken könnte. Unabhängig davon lernten sich Maria und Frederik wenig später über gemeinsame Freunde persönlich kennen und kamen erst im Verlauf des Gesprächs darauf, dass sie sich schon virtuell getroffen hatten.
Die gemeinsame Hypochondrie schafft auf künstlerischer Ebene sowohl textlich als auch musikalisch erstaunliche Synergieeffekte: Frederik, der die Lyrics schreibt, scheint Maria aus der Seele zu sprechen, die wiederum den recht unterkühlten Zeilen durch ihr fragiles Timbre magisches Leben einhaucht. Von den ersten, spitzen Keyboardklängen des Eröffnungsstücks "Winter Beats" an, kann man sich dem tranceartigen Sound von I Break Horses nicht entziehen. Denn wenn sich die dumpfen Beats zur sanften Gesangslinie einschleichen und der breite Snare-Drumsound in der Unendlichkeit verhallt, dann ist das nur der Anfang. Simultan zu verzerrt kreischenden Gitarrenlinien singt Maria einem erlösenden Engelschor gleich die herzzerreißende Melodie zum immer schneller werdenden Beat, wobei dieses Finale dann gleich in den knisternd rauschenden Albumtrack "Hearts" nahtlos übergeht. Eines der absoluten Highlights der Platte, den Shoegazer wie My Bloody Valentine, Slowdive oder auch die Dreampopband Cocteau Twins nicht besser hätten hinkriegen können.
Back to the bedroom
Nicht nur auf inhaltlicher Ebene führten Krisensituationen zu den schönsten Momenten von I Break Horses. Eine achttägige Aufnahmesession in einem großen Studio in Polen entwickelte sich zum soundtechnischen und emotionalen Desaster: Die fast gläserne Grundstruktur der Songs ließ sich in der Atmosphäre eines perfekten Aufnahmeraumes nicht nachbilden. Geschweige denn die unglaubliche Dichte der Stimmungen, die den Kern der glitzernden Popsongs von I Break Horses bilden. Also blieb den beiden Musikern nichts anderes übrig, als das Meiste der Aufnahmen wegzuschmeißen und wieder ins Schlafzimmer zurückzukehren, in dem die ersten Demos entstanden sind.
Der erwähnte Titeltrack "Hearts" ist das perfekte Beispiel dafür, dass die Entscheidung mit diesen rauschenden Demoversionen weiter zu arbeiten, genau die richtige war. Auch die unheimlich dahinwabernde, sich zu einer hell erstrahlenden Hymne entwickelnde Ballade "I Kill Love, Baby" - die klingt, als hätten MGMT tonnenweise Valium geschluckt, um ihre tiefsten Gefühle zu erforschen - transportiert den Vibe dieser bedroom sessions perfekt.
A healing soundtrack for the heart
Wenn es um Inspirationen geht und man die offensichtliche Soundreferenz zu den Gitarrennoisebands einmal hintenan stellt, dann sprich Maria Lindén meist von Filmen und Bildern, die sie im Kopf hat, wenn sie ihre Songs schreibt. Ohne sich auf einen spezifischen Streifen festlegen zu wollen, nennt sie Wim Wenders "Himmel über Berlin" als einen der Einflüsse. Ein Song wie "Cancer", der mit seinen fast schon sakralen Synthie-Flächen dem Popformat entschwebt, wäre eine gute Untermalung für den Wenders Streifen.
Überhaupt funktioniert das Album "Hearts" als Soundtrack für beißend kalte Wintertage, an denen die Sonne die Schneekristalle zum glitzern bringt oder sich der dicke Nebel über die Häuser legt und der Geruch nach verbrennendem Holz sich zwischen den Gassen ausbreitet. I Break Horses haben es mit ihren Songs geschafft, eine schützende und magische Atmosphäre zu kreieren, in der man die Seele baumeln und sich ganz den sphärischen Soundflächen, den noisigen Gitarrenwänden und der hypnotischen Stimme von Maira Lindén ergeben kann.

Sebastien Dehesdin
"Hearts" ist sozusagen der heilende Soundtrack für die Seele, der auch der schwedischen Sängerin selbst geholfen hat über ihre Ängste und ihre Krankheit hinwegzukommen. Denn heute schreibt sie ihre wundervollen Songs aus einem guten und sicheren Gefühl heraus. Was kann ein Album mehr leisten.