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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

1. 11. 2011 - 23:44

Corporate City

Wie die Umleitung der Besetzung der London Stock Exchange auf den Vorplatz der St Paul's Cathedral unversehens einen wunden Punkt des britischen Establishments traf.

Vor anderthalb Wochen bin ich dann endlich selbst zum Zeltlager der Occupy London Stock Exchange Bewegung gegangen, anstatt mich bloß über diverse Medien und Netzwerke am Laufenden zu halten.

Mann mit Sweater "Abolish Money" vor der St Paul's Cathedral

Robert Rotifer

Jene TeilnehmerInnen, die mir dort vors Mikrophon liefen, waren ganz offensichtlich mehr aus Instinkt denn mit einem ideologisch sattelfesten Programm im Rucksack zur Besetzung gekommen – was auf seine Weise zwar genauso legitim ist, sich aber schlecht in Zitate fassen lässt.

Plakat "Capitalism is a kind of slavery"

Robert Rotifer

Ein Mitarbeiter einer Wohltätigkeitsorganisation, der sich für die Besetzung eine Woche freigenommen hatte, erklärte seine Motive zum Beispiel so:

Der Saxophonist mit dem WePhone

Robert Rotifer

„Die Leute da oben wollen immer mehr, die Korruption breitet sich aus, und auf die unten wird heruntergeschissen äh... gegackt. Das ist das Gegenteil von Sozialismus. Ich bin anti-garnichts. Ich will mich nicht in Semantik verlieren. Der Kopf muss schon da sein, aber es muss auch vom Herzen kommen. Ich will hier eine positive Energie sein. Es gibt viele verwundbare Leute in unserer fragmentierten Gesellschaft. Leute, die durch das Netz rutschen. Ich bin hier, um diese Leute zu unterstützen. Und mich selbst auch. (…) Ich will nicht oberflächlich rüberkommen, aber wir haben ja das iPhone - warum nicht das wePhone, das usPhone?"

Äh... genau. Sein Freund und Zeltgenosse David meinte:

Protester David

Robert Rotifer

„Wir wollen keine Inflation und keine Steuern, weil die ruinieren die Wirtschaft, und grundsätzlich ist alles hin, alles vorbei."

Schwierig. David ist 36.

„Ich hab meine Diplome und alles, aber ich kriege nirgends einen Job, ich war überall, landauf, landab. Es ist ein Albtraum. Du brauchst dir nur die jungen Leute anzusehen, die hier sind. Das sind alles echte Leute hier.“

Ein paar Schritte weiter pinselte die Studentin Sarah den Slogan „The people are too big to fail“ auf ein Transparent.

Ja, das System gehöre geändert, sagte sie. Eine Vorstellung davon, wie ein besseres aussehen sollte, hatte sie nicht anzubieten, „aber ich glaube, dass die Leute jetzt erst draufkommen, wie unfair sie behandelt werden.“

Protestiererin Sarah

Robert Rotifer

Positiv betrachtet belegten diese Aussagen immerhin, dass es sich bei der Aktion Occupy LSX keineswegs wie mancherorts behauptet um einen harten Kern von BerufsdemonstrantInnen handeln konnte.

Und jedenfalls wusste ich es dank meines Lokalaugenscheins schon besser, als letzte Woche die Daily Mail mittels Infrarotkamera belegt haben wollte, dass 90 Prozent der Zelte des Nachts unbesetzt seien (was trotz seiner schnellen Widerlegung immer noch beharrlich Theorien über die mutmaßlich wohlbehütete Herkunft der vermeintlichen TeilzeitbesetzerInnen nach sich zieht):

Jener gewisse Geruch in dem Zelt, das ich bei meinem Interview von innen gesehen hatte, lässt sich nicht fälschen.

Genauso wenig plausibel erschien mir die Entscheidung des Domkapitels, die St Paul's Cathedral – zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg – zeitweilig zuzusperren, weil angeblich ein Gesundheits- und Sicherheitsrisiko für KirchenbesucherInnen (die übrigens 14 Pfund 50 bezahlen) bestanden hätte.

Zelte vor der St Paul's Cathedral

Robert Rotifer

Die in Sachen Müllvermeidung und Verpflegung gut organisierte Zeltstadt verstellte keineswegs den Eingang zur Kirche und wirkte im allgemeinen Gewusel der City mehr wie ein Ruhepol denn eine Gefahrenquelle.

Offensichtlich war da noch ganz was anderes im Gange: Die Abhängigkeit der St Paul's Cathedral von den Zuwendungen der sie umgebenden City of London hatte den als Medienpfarrer bekannt unkonventionellen Domherr Giles Fraser, der anfangs seine Sympathie für die Demonstration vor der Haustür bekundet hatte, in Konflikt mit dem Domkapitel gebracht, das kein offizielles Gutachten zu den angeblichen Gesundheits- und Sicherheitsbedenken vorlegen konnte.

Recycling-Center im Zeltlager

Robert Rotifer

Fraser trat am Donnerstag aus Protest gegen die von seinen Kirchenkollegen mitgetragene Drohung einer gewaltsamen Entfernung des Zeltlagers per gemeinsam mit der City of London Corporation eingefordertem gerichtlichem Bescheid zurück.

Transparent: "Capitalism is crisis"

Robert Rotifer

Am Samstag folgte ihm sein Widersacher, der Dekan Graeme Knowles nach, weil sich seine umstrittene Entscheidung, die Kathedrale zu schließen, als blankes PR-Desaster erwiesen hatte.

Höchst ungewöhnlicherweise hat seither der Bischof von London Richard Chartres interimsmäßig die Affären der Kathedrale übernommen. Für die anglikanische Kirche bedeutet all das eine institutionelle Krise, die vom ursprünglichen Ziel des Protests, der London Stock Exchange nebenan ablenkt. Sollte man meinen.

Plakat: "Respecting the Area"

Rob

Andererseits hat die angedrohte gerichtliche Verfolgung der BesetzerInnen das Augenmerk auf die eigenartige Gemeindeverwaltung in der City geworfen. Ein spannendes Thema für SystemkritikerInnen.

Zur Erklärung für in London weniger Bewanderte: Die City, jenes 1,2 Quadratmeilen große Gebiet im östlichen Zentrum der Stadt, welches das Finanzwesen beherbergt, ist sowas wie eine autonome Zone außerhalb der Souveränität der Londoner Stadtverwaltung mit einer eigenen Polizei, regiert von ihrem eigenen, von den Gilden (Livery Companies) eingesetzten Bürgermeister, dem Lord Mayor, dem zwei Sheriffs zur Seite stehen. Ist seit 1198 so.

Der Gemeinderat der City of London wird nicht nur von ihren bloß 9.000 EinwohnerInnen gewählt, sondern in 21 von 25 Wahlkreisen von jenen Leuten, die dort arbeiten.

Das klingt gar nicht schlecht, bedeutet aber in der Praxis, dass etwa die Führung einer in der City beheimateten Bank in Stellvertretung all ihrer MitarbeiterInnen abstimmen kann. Mit einem modernen Demokratieverständnis lässt sich das kaum vereinbaren, da es aber in Großbritannien keine schriftliche Verfassung gibt, kann jenes archaische System unangefochten weiterbestehen.

Das vor allem wegen der pittoresken alljährlichen Lord Mayors' Parade gern als exzentrisches Schauspiel romantisierte Zeremoniell rund um diese Verwaltung ist in Wahrheit also Ausdruck eines immer noch sehr effektiven, reaktionären Herrschaftsmodells.

Plakat: "Share the lolly"

Robert Rotifer

Während die demokratisch gewählte Londoner Stadtverwaltung in der City kein Einflussrecht genießt, unterhält die Corporation wesentliche wirtschaftliche Interessen und Besitztümer außerhalb ihres geographischen Einzugbereichs und sogar ihren eigenen Repräsentanten im Unterhaus, den Remembrancer, der dazu da ist, „den Status der City zu erhalten und zu erhöhen und sicherzustellen, dass ihre bestehenden Rechte bewahrt werden.“

Faszinierendes further reading bei George Monbiot

Diese kuriosen Umstände erklären zu einem nicht unwesentlichen Teil die Sonderbehandlung, die das Londoner Finanzwesen genießt - warum zum Beispiel eine Finanztransaktionssteuer in Großbritannien so undurchsetzbar scheint.

Die Besetzung des Platzes vor der Kathedrale hat also – auch wenn sie eigentlich nur als Kopie der Occupy Wall Street Aktion gedacht war – ein ganz spezifisches britisches Demokratieproblem aufgezeigt. Die Frage, wem die Straßen rund um die Londoner Stock Exchange gehören, trifft in diesem Fall tatsächlich den Kern des Protests.

post-it-Zettelchen: "Take over the banks, everything will change"

Robert Rotifer

Die BesetzerInnen haben einer Gerichtsverhandlung als öffentliches Forum für diese Fragen dementsprechend enthusiastisch entgegengesehen. Aber daraus wird nun nichts: Heute beschloss die von der Optik des Beschützens des Reichtums gegen den Protest des Volks peinlich berührte Kirche, ihr gerichtliches Vorgehen gegen die Besetzung einzustellen. Die City reagierte am Abend mit einer „Pausierung“ aller rechtlichen Schritte, um der Kirche „Raum zum Nachdenken“ zu geben.

Die Zelte dürfen also einstweilen bleiben. Diese Geschichte wird weitergehen.