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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

23. 9. 2011 - 18:29

Die starke Hand, die sie meinen

Polemische Assoziationskette zum oft gehörten Ruf nach "strong leadership" anlässlich der nächsten großen Krise.

„Wir erleben das wirtschaftliche Äquivalent eines Krieges,“ hat der britische Wirtschaftsminister Vince Cable vor ein paar Tagen auf dem liberaldemokratischen Parteitag getönt.

Er rechtfertigte die Tatsache, dass ein wacher Geist wie er sich als loyaler Teil einer Regierungskoalition wiederfindet, die die Regulierung des Investment-Banking groß angekündigt aber gleichzeitig bis 2019 aufgeschoben hat, die sich trotz katastrophaler Wirtschaftszahlen an ihr Dogma des Gesundsparens klammert und die nach unten kürzt und nach oben hin eine Senkung des Höchststeuersatzes anstrebt (immerhin da legen sich die Liberalen quer), also mit einer historischen Analogie.

In der Depressionsära der Dreißiger gab es in Großbritannien nämlich eine Konzentrationsregierung, das „National Government“, ab 1940 eine weitere Allparteienkoalition bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, gefolgt vom Caretaker Government der unmittelbaren Nachkriegszeit. Alles natürlich nicht wirklich vergleichbar mit der derzeitigen konservativ-liberalen Koalition, zumal die Labour-Fraktion mit ihrem ohnehin wenig kontroversiellen Ruf, doch nicht ganz so destruktiv zu sparen und mehr ans Wachstum zu denken (wo immer das in einer auf Privatverschuldung aufgebauten Konsumgesellschaft herkommen soll), diesmal draußen bleiben muss.

Cables düstere Worte implizieren jedenfalls, dass wir uns in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befinden und dass es in solchen Zeiten keinen Platz für ein Abweichen von der gemeinsamen Linie gebe.

Das "Wunder von Chile" revisited

Der auf der Hand liegende Orwell-Vergleich von wegen andauerndem Kriegszustand als politisches Machtmittel hängt ja schon lange in der Luft wie ein Furz in einer russischen Raumstation (© Billy Bragg, Goalhanger). Aber wo wir schon bei einer aus der Endphase des Kalten Kriegs geborgten Metapher sind:

Gary Oldman als George Smiley

Working Title

Gary Oldman als George Smiley in der Neuverfilmung von Tinker Tailor Soldier Spy

Das größte kollektive britische Kulturereignis ist derzeit die Neuverfilmung von John Le Carrés Ost-West-Doppelagentenroman „Tinker, Tailor, Soldier, Spy“; ursprünglich erschienen im für paranoide Szenarien höchst empfänglichen Jahr 1974, als die Öl- bzw. die daraus resultierende Wirtschaftskrise in Großbritannien zu äußerst schwachen Regierungen führte und die britischen Premierminister mit allerlei Verschwörungen im Hintergrund zu kämpfen hatten.

Gewisse Kreise des Establishments und der Armeeführung träumten damals von einer Diktatur, die ein für alle Mal mit den Gewerkschaften aufräumen würde (was Maggie Thatcher dann, infolge ihrer vom patriotischen Eifer des Falkland-Kriegs 1982 begünstigten Wiederwahl ein Jahrzehnt später erledigen sollte).

Dieser zufällige, aber doch vielsagende Zusammenhang fiel mir vorgestern ein, als der aus Athen berichtende (sonst eigentlich verhältnismäßig vernünftige) BBC-Korrespondent Paul Mason in seiner Erklärung der Schock-Doktrin des IMF ganz nebenbei Chile 1973 als Erfolgsbeispiel erwähnte.

Wir erinnern uns: Das „Wunder von Chile“, wie es der amerikanische Ökonom Milton Friedman und seine „Chicago Boys“ nannten, war der Testfall einer neoliberalen Wirtschaftsreform der Privatisierungen und radikalen Budgetkürzungen.

Die Voraussetzung dafür war allerdings ein blutiger, von der CIA und US-Konzernen wie ITT und Pepsi Cola unterstützter Militärputsch, indessen Folge soziale Härten mit militärischer Macht, Folter und Mord durchgedrückt wurden (auch die Krise davor war von den Interventionen der USA aktiv begünstigt. „Make the economy scream,“ hatte Präsident Nixon dem CIA angeordnet).

Der gängigen neoliberalen Geschichtsauslegung zufolge barg die „Befreiung“ der Wirtschaft Chiles durch die Junta des General Pinochet den Keim für die spätere Demokratisierung des Landes Ende der Achtziger, aber strategisch war davon wenig zu merken, als der US-Außenminister Henry Kissinger kurz vor dem Putsch sagte:

„Ich verstehe nicht, warum wir untätig zusehen sollen, wie ein Land wegen der Verantwortungslosigkeit seines eigenen Volkes kommunistisch wird. Diese Themen sind viel zu wichtig für die chilenischen Wähler, um sie ihrer eigenen Entscheidung zu überlassen.“

Was "strong leadership" bedeutet

General Pinochet

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Pinochet

Aussagen dieser Art sind in britischen Medien dieser Tage oft zu hören oder lesen, wenn es um die Beschreibung der Lage Griechenlands geht. Die Annahme ist, dass es des "strong leadership" bedarf, um die nötige Schock-Kur (immer wieder die objektiv klingende Medizinmetapher) und den Abbau des „aufgeblähten öffentlichen Sektors“ (immer wieder die Furzmetapher) durchzusetzen.

Vor dem Hintergrund glänzender Bankzentralenfassaden beklagen wild gestikulierende WirtschaftsredakteurInnen die Tatsache, dass man es in der Eurozone mit lauter Demokratien zu tun habe, deren PolitikerInnen an die Meinung des lästigen Wahlvolks zu denken hätten.

Doch so frustrierend die Ergebnislosigkeit der diversen Gipfeltreffen tatsächlich sein mag, so auffällig gottergeben bleibt die Berichterstattung in ihrer gleichzeitigen, beharrlichen Akzeptanz der Weisheit der außerhalb jeder sozialen Verantwortung und Allgemeininteressen operierenden Märkte.

Nur die seit gut 30 Jahren in der hegemonialen Freie-Marktwirtschafts-Ideologie geschulten ÖkonomInnen (die Gläubigsten unter ihnen werden WirtschaftsjournalistInnen) glauben noch an die innere Logik eines Systems, das so konsequent seiner eigenen Vernichtung entgegensteuert. Während sie ihrer geliebten Maschine dabei zusehen, wie sie alles um sich und schließlich sich selbst verschlingt, rufen sie nach einer „Entscheidung“ der „policy makers“ (sie meinen den „Staat“, aber bringen ihr liebstes Hasswort in diesem Zusammenhang nicht über die Lippen).

Gemeint ist damit freilich nicht die von so gefährlichen Linksradikalen wie Bill Gates geforderte Einführung einer Finanztransaktionssteuer oder erhöhter Kapitalertragssteuern, schließlich muss jede Verunsicherung der leicht beleidigten „wealth creators“, die mit ihren Geschäften jetzt schon erstaunlich viel Armut anderer kreiert haben, dringlichst vermieden werden.

„Entscheidung“ ist vielmehr der gängige Euphemismus dafür, Griechenland und wer immer danach in die Kreditfalle tappen sollte, mit öffentlichen Geldern auszulösen – um danach wieder, in jetzt schon vorhersagbarer Weise, eine Reduktion der durch genau so eine Rettungsaktion erhöhten öffentlichen Verschuldung einzufordern.

Diktatur statt Schulden?

James Meek erklärt in seiner gestrigen Analyse Where would the money come from? im London Review of Books sehr plausibel, wie der so im Namen der neoliberalen Doktrin erzeugte soziale Unfrieden den Nationalpopulisten Europas in die Hände spielen wird.

Aber wer sagt, dass sich zur Rettung des Wirtschaftssystems nicht auch das politische System opfern ließe? Man braucht nicht einmal in die Tiefen von Standard-Leserforen vorzudringen, um Stimmen zu hören, die sich im Fall eines Pleite gegangenen Griechenland zur Disziplinierung des aufgebrachten Volks eine übergangsmäßige Militärdiktatur nach chilenischem (bzw. historisch griechischem) Vorbild vorstellen können. Da tut es auch der Blog des Wall Street Journal.

Spätestens an diesem Punkt sollte das größte Tabu unserer Epoche fallen: Wenn das Finanzsystem und ein demokratisches System sich letztendlich nicht vereinen lassen, dann muss zur Rettung des zweiteren eben das erstere wirkungsvoll gezähmt oder gar neu erfunden werden. Das erfordert aber nicht nur „strong leadership“, sondern auch einen entschiedenen, kreativen Abschied von der diskreditierten Denke der so oder so, auch mit totalitären Mitteln nicht mehr zu rettenden neoliberalen Ära.